Mathematik für Bergsteiger:Ist es noch weit?

Mathematik für Bergsteiger: Pausen werden bei der Berechnung von Wegzeiten nicht berücksichtigt.

Pausen werden bei der Berechnung von Wegzeiten nicht berücksichtigt.

(Foto: Jörg Buschmann)

Die Zeitangaben für Wanderungen werden in jedem Land unterschiedlich berechnet. Mit der Realität stimmen sie nirgends überein.

Von Folkert Lenz

Dass die Schweizer in allem etwas langsam sind, ist sicher nur ein gehässiges Klischee. Dass sie heute langsamer wandern als früher, das ist amtlich festgelegt. 4,2 Kilometer pro Stunde schaffen sie zu Fuß. So zumindest lautet seit 2006 der Richtwert, auf dessen Grundlage die Stunden- und Minutenangaben auf den 50 000 gelben Wegweisern an den Schweizer Wanderpfaden errechnet werden. Noch in den Siebzigerjahren schritten die Eidgenossen offenbar etwas zügiger aus: Auf 4,5 Kilometer pro Stunde taxierten sie seinerzeit ihre offizielle Durchschnittsgeschwindigkeit.

Doch die Rechnung hat einen Haken: Sie gilt nur in der Ebene, und in der Schweiz gibt es kaum plattes Land. Die Höhen und Tiefen der alpinen Topografie stellen die Marschzeitkalkulatoren seit eh und je vor große Probleme. "Früher wurden gewisse Strecken schlicht abgelaufen", sagt Andreas Wipf vom Dachverband "Schweizer Wanderwege". Diese Institution berät die kantonalen Vereine, die das 60 000 Kilometer lange Wegenetz in der Schweiz betreuen. Seinerzeit waren es laut Wipf vor allem die "technisch schwierigeren" Etappen, die sich dem Stoppuhr-Test unterziehen mussten. Wege also, die sich durch reichliches Auf und Ab auszeichneten. In einer Empfehlung der "Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege" aus dem Jahr 1941 heißt es, die benötigte Zeit sei festzustellen durch "Abschreiten des Weges mit einem normalen Wanderschritt von Personen verschiedener Marschtüchtigkeit (Erwachsene und Kinder)".

Die Zeitvorgaben im Wallis oder in Graubünden halten viele Wanderer für "unmenschlich"

Schon damals dürfte mancher Normal-Bergwanderer vermutet haben, dass nur überdurchschnittlich trainierte Alpinisten in diesen Messtrupps zum Einsatz kamen. Anders ist es ja kaum zu erklären, dass man in einigen Regionen sein Ziel niemals in der angegebenen Zeit erreicht, sondern - trotz aller Fitness - den Vorgaben immer hinterherläuft. Als "unmenschlich" gelten bis heute manchen Berggehern die Zeitvorgaben im Wallis oder in Graubünden, während den Bernern eher eine gewisse Gemächlichkeit nachgesagt wird.

"Das sind nur gefühlte Unterschiede", beteuert aber der Geograf Wipf. Denn die Abschreitmethode ist schon längst durch objektivere Maßstäbe ersetzt. Schon in ihrer Richtlinie von 1941 empfahl die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege neben der empirischen Methode durch Ablaufen noch zwei weitere Varianten, mit denen sich die Marschzeit ermitteln ließ. Und zwar zum einen mit einer einfachen Berechnung. Allerdings floss dabei die Steilheit von Wegen im Gebirge - also der wichtigste Faktor, der einen Wanderer schnell oder langsam macht - nur grob ein.

Steigungen und Gefälle bis vier Prozent blieben unberücksichtigt; dort verwendete man damals zeitweise den gemächlichen Richtwert von 4,2 Kilometern pro Stunde. Lag die durchschnittliche Steilheit zwischen vier und 20 Prozent, gab es einen Aufschlag von einer Minute pro zehn Höhenmeter, dafür wurden in der Strecke sportliche sechs Kilometer pro Stunde verlangt. Ging die Steigung über 20 Prozent, wurden pro zehn Höhenmeter gnädig fast zwei Minuten mehr kalkuliert.

Die zweite Variante war etwas gründlicher und wohl auch weiter verbreitet: Man konnte die Gehzeiten für die einzelnen An- und Abstiegsetappen aus einem offiziellen Diagramm herauslesen, das zwischen den empirischen Messungen interpolierte (Grafik unterer Teil). Basis war ein Grundtempo von 4,5 Kilometern pro Stunde. Mit einer festen Entfernung auf der x-Achse und der Höhendifferenz im Aufstieg oder Abstieg auf der y-Achse landet man in diesem Diagramm auf einer Kurve, die die Marschzeit angibt.

Wanderkarte

Doch auch dieses Verfahren war den Schweizern zu ungenau. Schon vor Jahrzehnten wurde deshalb eine Formel entwickelt, welche die Berechnung erheblich verbessert. Gerhard Weber - Ex-Mitarbeiter beim Bundesamt für Landestopografie - hat sich in den 1980er-Jahren 162 Bergstrecken in mühevoller Kleinarbeit aus der Landeskarte herausgesucht. Diese wiesen jeweils unterschiedliche, aber konstante Steigungen auf. Eine nach der anderen ist Weber dann abmarschiert, wieder mit der Stoppuhr in der Hand.

Die Zeitmessungen der Teststrecken notierte er penibel. Webers Sohn Stephan - ein EDV-Freak - entwickelte auf dieser Grundlage ein Polynom 15. Grades, das sich leicht per Computer berechnen ließ und fortan für jeden Streckenabschnitt standardisierte Marschzeiten lieferte (Grafik oberer Teil). Mit den 16 darin enthaltenen Konstanten lassen sich allerdings nur Steigungen und Gefälle bis 40 Prozent korrekt abbilden. Geht es steiler bergauf oder bergab, so muss linear extrapoliert werden. Seit etwa zehn Jahren ist diese Berechnungsmethode in der ganzen Schweiz fest etabliert; ältere Wegweiser mit anders berechneten Zeitangaben dürfte es kaum noch geben.

Damit niemand die letzte Bahn ins Tal verpasst

Trotzdem werden gerade bei besonders steilen oder sehr schwierig zu begehenden Wegen bis heute auch Test-Begehungen herangezogen, um die Laufzeit zu bestimmen. Und bei Wegen mit Seilbahn-Bergstationen als Ziel rundet man den berechneten Wert lieber auf, damit niemand die letzte Bahn ins Tal verpasst.

Allerdings kann auch die penibelste Rechnerei für die Praxis nur einen Anhaltspunkt geben, wie lange der Weg tatsächlich dauern wird. Denn die persönliche Fitness findet genauso wenig Eingang wie kurze Pausen und Panorama-Picknicks. Und so findet man im Gelände praktisch niemanden, der die vorgegebene Zeit einhält. Auch Wipf glaubt, dass es den Norm-Marschierer gar nicht gibt: "Insgesamt gehen rund 50 Prozent der Wandernden schneller als die angegebene Zeit, die andere Hälfte ist langsamer."

In den anderen Alpennationen gibt es ebenfalls offizielle Regeln für die Wegzeitkalkulation. Die Deutschen haben dafür sogar eine Norm entwickelt: DIN 33466 verlangt nicht nur Wegschilder in drei Millimeter starker Alu-Ausführung im gelben Farbton "RAL 1023", auch Verkehrsgelb genannt. Zugelassen sind daneben auch grün und weiß. Als Schrift ist "Linear-Antiqua" vorgesehen. Auch für die Formel zur Gehzeitenberechnung gibt es in Deutschland eine Verordnung: Demnach legt ein deutscher Durchschnittsbergwanderer pro Stunde 300 Höhenmeter im Aufstieg und 500 Höhenmeter im Abstieg zurück.

Für die Horizontalentfernung wird ein Stundenwert von vier Kilometern angesetzt. Mithin ist man in den bayerischen Bergen - zumindest rechnerisch betrachtet - ein bisschen langsamer unterwegs als in der Schweiz. "Die tatsächliche Gehzeit einer Strecke lässt sich dadurch errechnen, dass von den für Horizontal- und Vertikalentfernung errechneten Zeiten der kleinere halbiert und zum größeren addiert wird", heißt es im Wegekonzept des Deutschen Alpenvereins (DAV).

Dass es bei den Zeitangaben für Wanderungen trotzdem regionale Unterschiede gibt, will Thomas Bucher, Sprecher des DAV, nicht ausschließen. Auch im bayerischen Alpenraum kennt Bucher "pädagogische Wegweiser" wie in der Schweiz: "In der Nähe von Bergstationen der Seilbahnen werden Gehzeiten bisweilen sehr konservativ berechnet", sagt er. Und auch bei den Schwierigkeitsangaben der Wege werde im Umfeld von Liften gerne übertrieben, sagt Bucher. Wohl, um die sogenannten Halbschuhtouristen abzuschrecken. Dass aber die Werdenfelser oder die Berchtesgadener ihre Zeitangaben besonders streng taxieren, mag er nicht bestätigen. Zumindest offiziell gebe es keine Absprachen, in bestimmten Gebieten die Wegzeiten anders zu kalkulieren als mit den gängigen Methoden.

In Österreich sollte man pro Stunde 300 Meter im Aufstieg und 500 im Abstieg schaffen

50 000 Kilometer Bergwege betreut der DAV zusammen mit seinem Pendant, dem Österreichischen Alpenverein. Und natürlich: Auch in Österreich gibt es genaue Angaben, welche Strecke der moderne Bergwanderer in einer Stunde zurückzulegen hat. Im "Wegehandbuch" steht unter Punkt 1.6.2.5, dass das genau wie in Deutschland "300 Meter im Aufstieg. 500 Meter im Abstieg. 4 Kilometer Horizontalentfernung"sind.

Im angloamerikanischen Raum wiederum hat zwar das Wandern lange Tradition, nicht aber Wegzeitangaben auf Schildern: Sie sind in Großbritannien und den USA nicht üblich. Nichtsdestotrotz ist auch dort eine Formel für den Privatgebrauch bekannt und verbreitet, entwickelt bereits 1892 vom bergsteigenden Schotten William Naismith: Etwa eine Stunde pro fünf Kilometer, plus eine weitere pro 600 Höhenmeter. Da keine Halbierung der kleineren Zeit vorgesehen ist, entsprechen die Höhenmeter bei geringen Steigungen dem deutschen Wert. Auf steileren Strecken hingegen, wo der Anstieg das Tempo bestimmt, wird es hart. Der Mountaineering Council of Scotland erklärt indes auf seiner Website, dass die meisten "einigermaßen fitten" Menschen den Marschrhythmus über einen Tag in den Bergen durchhalten sollten.

Den Schweizer Marschzeit-Optimierern ist es egal, welche Geschwindigkeiten Wanderern anderswo zugetraut werden. Sie arbeiten unverdrossen daran, ihre Polynom-Formel noch zielgerichteter einzusetzen. Sie nutzen dazu ein neues digitales topografisches Landschaftsmodell des staatlichen Geo-Informationsdienstes "Swisstopo". Mit diesem stehen noch exaktere Basisdaten zur Verfügung. Die Höhendaten sind jetzt direkt an Straßen und Wege gekoppelt, die Auflösung ist dadurch genauer als früher. So wird zum Beispiel beim Überqueren einer Staumauer oder Brücke keine Höhendifferenz mehr berechnet. "Jetzt wird also nicht mehr fälschlicherweise ein Umweg über den Talboden angenommen", erklärt Andreas Wipf. Auch kleinere Zwischenanstiege sollten damit genauer erfasst werden.

Doch selbst der Geograf Wipf nimmt bei seinen eigenen Bergausflügen die akribisch berechneten schweizerischen Wegzeitenangaben nur als Anhaltspunkt. "Die Zahlen auf den Wegweisern rechne ich dann in meine persönlichen Wanderzeiten um", sagt er unbekümmert. Jeder müsse sich quasi selbst eichen an seinen Erfahrungswerten. Sein Tipp zum praktischen Umgang mit den Daten: Alles nur nicht zu genau nehmen.

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