Digitalisierung:Rettet den Zufall!

Traditional carnival parade in Mohacs

Ein bisschen Anarchie: Beim Karneval im ungarischen Mohács ist (fast) alles erlaubt - und unheimliche Verkleidung erwünscht. (Symbolbild)

(Foto: dpa)

Konzerne wie Amazon, aber auch Bürgermeister träumen von dem einen Kontrollraum, von dem aus sich unser Leben zentral lenken lässt. Das erstickt Ideen. Ein Plädoyer für mehr Chaos und Anarchie.

Gastbeitrag von Carlo Ratti und Dirk Helbing

Der Begriff "Preis der Anarchie" beschreibt in der Spieltheorie, wie Individuen, die innerhalb eines großen Systems nur in ihrem eigenen Interesse handeln, die Effizienz ebendieses Systems mindern. Das ist ein allgemeingültiges Phänomen, das den meisten von uns regelmäßig in irgendeiner Form begegnet.

Ein Städteplaner, der für das Verkehrsmanagement zuständig ist, kann den Verkehrsfluss der Stadt auf zwei Arten angehen. Grundsätzlich ist eine zentrale Top-down-Herangehensweise, die das gesamte System erfasst, effizienter, als jeden einzelnen Fahrer auf der Straße eigene Entscheidungen treffen zu lassen und zu erwarten, dass diese Entscheidungen in Summe zu einem annehmbaren Ergebnis führen. Die erste Herangehensweise verringert den Preis der Anarchie und zieht aus allen verfügbaren Informationen den bestmöglichen Nutzen.

Wir nähern uns einer vollständigen digitalen Kopie des materiellen Universums

Nun wird die Welt von Daten überflutet. 2015 hat die Menschheit genauso viele Informationen produziert wie in allen vorherigen Jahren der Zivilisation zusammen. Immer wenn wir eine Nachricht verschicken, einen Anruf tätigen oder eine Transaktion abschließen, hinterlassen wir digitale Spuren. Wir nähern uns mit schnellen Schritten dem "Gedächtnis der Welten", wie der italienische Autor Italo Calvino es einmal nannte: einer vollständigen digitalen Kopie des materiellen Universums.

Das Internet weitet sich durch das "Internet der Dinge" in immer neue Bereiche des materiellen Raumes aus, deshalb wird der Preis der Anarchie eine entscheidende Größe in unserer Gesellschaft werden und die Versuchung, ihn kraft der Big-Data-Analysen auszumerzen, immer stärker.

Dafür gibt es unzählige Beispiele. Nehmen Sie den vertrauten Vorgang des Buchkaufs auf Amazon. Amazon hat Berge von Informationen über seine Kunden, angefangen bei ihren Profilen, dem Verlauf ihrer Suchanfragen, bis hin zu den Sätzen, die sie sich in E-Books markieren. All das verwendet Amazon, um vorherzusagen, was sie vielleicht als Nächstes kaufen wollen. Wie bei allen Formen zentraler künstlicher Intelligenz werden bestehende Muster verwendet, um zukünftige vorherzusagen. Amazon kann durch einen Blick auf die letzten zehn Bücher, die Sie gekauft haben, mit wachsender Genauigkeit Empfehlungen aussprechen, was Sie als nächstes lesen wollen könnten.

An diesem Punkt sollten wir jedoch bedenken, was alles verloren geht, wenn wir die Anarchie eingrenzen. Sinnvollerweise sollten Sie nach den letzten zehn Büchern gerade eines lesen, das nicht in ein vorgegebenes Muster passt, sondern eher eines, das Sie überrascht oder zu einer neuen Sichtweise auf die Welt anregt.

Die vielfältige Gesellschaft steht auf dem Spiel

Anders als das erwähnte Verkehrsfluss-Beispiel dürften optimierte Empfehlungen, die sich oft zu selbsterfüllenden Prophezeiungen Ihres nächsten Kaufs entwickeln, nicht das beste Modell bei der Online-Büchersuche sein. Big Data können unsere Optionen vervielfachen und gleichzeitig Dinge herausfiltern, die wir nicht sehen wollen, aber es hat schon etwas für sich, gerade dieses elfte Buch durch einen glücklichen Zufall zu entdecken.

Was für den Bücherkauf gilt, gilt auch für viele andere Systeme, die gerade in den digitalen Raum verlagert werden, wie etwa unsere Städte und Gesellschaften. Zentrale kommunale Systeme verwenden nun Algorithmen, um die städtische Infrastruktur zu überwachen, angefangen bei Ampeln und U-Bahn-Nutzungsverhalten, bis hin zur Abfallentsorgung und Energieversorgung. Weltweit sind viele Bürgermeister von der Idee fasziniert, einen zentralen Kontrollraum zu haben, von dem aus Städtemanager in Realzeit auf neue Informationen reagieren können.

Mit zentralisierten Algorithmen, die langsam jede Facette der Gesellschaft organisieren, droht jedoch die datengesteuerte Technokratie Innovation und Demokratie zu erdrücken. Das muss um jeden Preis verhindert werden. Dezentrale Entscheidungsfindung ist essenziell für eine vielfältige Gesellschaft. Umgekehrt basiert datengesteuerte Optimierung auf festgelegten Mustern, die in ihrer momentanen Form genau die Ideen ausschließt, die überraschend sind und Normen durchbrechen. Aber nur solche Ideen können die Menschheit voranbringen.

Menschliche und künstliche Intelligenz sollten zusammenwirken

Ein gewisser Grad von Zufall im Leben ermöglicht neue Denkmuster, die andernfalls fehlen würden. Auf Makroebene ist der Zufall auch für das Leben an sich notwendig. Hätte die Natur vorhersehbare Algorithmen verwendet, die zufällige Mutation bei der Vervielfachung von DNA verhindern, wäre der Planet vermutlich immer noch in einem Stadium von höchst optimierten Einzellern.

Dezentrale Entscheidungsfindung kann durch natürliche und künstliche Koevolution Synergien zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz erzeugen. Dezentrale Intelligenz mag manchmal kurzfristig die Effizienz mindern, aber auf lange Sicht wird sie zu einer kreativeren, vielfältigeren und belastbareren Gesellschaft führen. Der Preis der Anarchie ist ein Preis, den es sich zu zahlen lohnt, wenn wir zufällige Innovation erhalten wollen.

Carlo Ratti ist Direktor des Senseable City Laboratory am Massachusetts Institute of Technology und Vorsitzender des Global Agenda Council für Stadtmanagement des Weltwirtschaftsforums.

Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und Leiter der Projekte FuturICT und Nervousnet.

Deutsch von Sofia Glasl

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