Ungarische Literatur:Das Blaue vom Himmel

Der ungarische Schriftsteller Ferenc Barnás fordert in seinem Roman "Der andere Tod" den Möglichkeitssinn heraus. Mit dem Mut der Verzweiflung stellt er sich den Schreckensbildern im kollektiven Unbewussten.

Von Insa Wilke

Leicht, ja, lässig ist heutzutage die Rede vom Möglichkeitssinn. Es kostet nichts, die Wirklichkeit nicht als gegeben, sondern als gedacht auszurufen, und die Menschen auf den dritten, vierten, fünften Weg der utopischen Methode zu bitten. Was daraus folgt? Was davon bleibt? Nicht viel. Wir sind es gewohnt, die Vielzahl der Möglichkeiten als Hoffnung zu betrachten. Es käme darauf an, sie auch zu denken, zu erproben, zu leben, nicht wahr?

Und wenn einer daran irre wird, dass diese Möglichkeiten leer und die Hoffnungen hoffnungslos bleiben? Wenn einer aus Notwehr vor der hohlen Rhetorik verrückt wird? Oder, noch schlimmer, wenn einer daran verzweifelt, dass eben doch die furchtbarsten dieser Möglichkeiten sich verwirklichen? Die Möglichkeit, dass ein Kind sieht, wie Männer es seiner Mutter "mit dem Gewehrlauf" machen. Die Möglichkeit, dass manche "einfach gern einen am Boden liegenden Körper" treten. Die Möglichkeit, dass überall Blut ist, Hunderttausende in Waggons verschleppt werden und "dafür jeder zur Verantwortung gezogen wird, jeder, auch derjenige, der für all das nicht verantwortlich war".

Eine empfindsame Seele ist dieser Erzähler, zu durchlässig für die Schatten seiner Zeit

Ferenc Barnás, geboren 1959 und eine weitere starke, seit Eva Zadors Übersetzung seines beeindruckenden Romans "Der Neunte" unbedingt auch in Deutschland zu beachtende Stimme der ungarischen Literatur, entwirft in seinem vierten Roman "Der andere Tod" das Bewusstsein eines solchen Menschen. Das wird nicht so gesagt, aber es lässt sich an der Syntax, am Kreiseln seiner Sätze, an ihrer manischen Unschlüssigkeit, ihrem mechanischen Bemühen um Präzisierung ablesen: "Es ist schwer, über das Ganze zu reden", so dieser Mensch, "denn damals bekam ich diesen Anruf aus Deutschland, und in den Tagen war das auch mit der Notaufnahme, beziehungsweise war noch etwas - an den Rest erinnere ich mich kaum. Höchstens an ein, zwei Sachen. Genauer umreißen könnte ich das aber nicht."

Der da anhaltend unbestimmt von "ein, zwei Sachen", "den Geschehnissen", "solchen Dingen", einem "das" und einem "so" spricht und sich mitzuteilen versucht, ist ein ehemaliger Musikdozent, Anfang vierzig, von Nudeln mit Tomatensoße und Wein lebend, mal als ein musizierender "Straßennirgendwas" in europäischen Kleinstädten unterwegs, dann wieder sich verzettelnd vertieft in sein literarisches Opus Magnum namens "Variationen" und sich schließlich als Saalwächter in einer Galerie (oder à la Dürrenmatt in der Psychiatrie?) immer weiter und weiter in seine Gedanken bohrend.

Er wohnt meistens in Budapest, in den Jahren nach der Wende, in einer Zeit der neuen europäischen Kriege und der Aufbruchsstimmung also, die heute, im Rückblick, als Stagnation erscheint, in der die alten, wundersam anpassungsfähigen Eliten sich in aller Ruhe in die neuen Eliten verwandeln konnten. Eine empfindsame Seele ist dieser Erzähler, zu durchlässig, zu empfänglich für die Schatten seiner Zeit und das Leid der Epoche. Denn es seien die Schatten, so der Erzähler, mit denen alles beginne, jedes Leben und jede Zeit.

"Der andere Tod" ist 2013 in Ungarn erschienen. Er wurde mit dem Literaturpreis des Versicherungskonzerns Aegon ausgezeichnet, für den stets die wichtigsten Autoren Ungarns - von Péter Esterházy über György Dragomán bis zu Krisztina Tóth und László Krasznahorkai - nominiert wurden. Ob ein Roman wie "Der andere Tod" heute wohl verboten würde? Die Frage ist noch Unsinn, auch wenn die mentalen und politischen Vorgänge, von denen ungarische Intellektuelle und Künstler berichten, an andere Zeiten erinnern.

Je befremdeter man auf dieses Buch schaut, desto bezwingender wird seine Logik

Oder, wie es "die Künstlerin", eine von den absonderlichen Nachbarinnen des Erzählers, über das erstaunlich lange Leben von Pfeilkreuzlern, den ungarischen Faschisten, und Kádáristen, den kommunistischen Hardlinern nach dem Aufstand von 1956, sagt: "Schauen Sie nur richtig hin. Die sind das Lächeln eines Massenmörders gewöhnt, so wie ich es sage. Und die kommen hier mit Systemwechsel und Systemwandel? Wissen Sie, was die machen?! Die versprechen das Blaue vom Himmel und dann puff, heiße Luft."

Die Frage nach der zeitgemäßen Unzeitgemäßheit dieses Romans kommt einem bei der Lektüre wohl auch in den Sinn, weil dieses Buch tatsächlich den Debatten um Formalismus, die Krise des Romans, den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entsprungen zu sein scheint. Er habe sich nie auf eine Logik einlassen wollen, erklärt der Erzähler sich und uns, "die Satz auf Satz aufbaute. Ich wollte ein im Raum atmendes Denken erschaffen". Simultanität, Fragment, für ungarische Leser vielleicht auch die Montage - alles wieder da, selbst die freundlich-indifferente Nötigung, jede Konsumhaltung aufzugeben und sich ganz romantisch ins verwirrende Chaos der Fetzen und Eindrücke zu stürzen.

Anachronistisch mutet das an, und mancher würde vielleicht auch müde auf Peter Weiss und Thomas Bernhard verweisen und sagen: Hatten wir doch alles schon. Mag sein. Dann gibt es jetzt eben noch so einen großartigen literarischen Fahrtenschreiber des kollektiven Unbewussten, der uns mit wortreicher Stille anschaut und fragt: "Was geschieht eigentlich mit uns?" Wenn es nun so ist, dass es wieder "solche" Menschen gibt, die "drinnen draußen sind" und an den Verhältnissen einsam verzweifeln, bis sie sich eingestehen: "Ich wusste nicht ganz genau, was ich suchte, denn in den Minuten wusste ich nicht ganz sicher, ob ich ich war, ob ich es war, der den Deckel der Mülleimer aufmachte, deshalb wusste ich offensichtlich auch nicht, was ich suchte."

Wenn das eben "so" ist, wäre es dann nicht konsequent, diesen Wahnsinn auch in die Form zu übertragen und sich ihr auszusetzen? Es ist eine Möglichkeit, und es kommt darauf an, sie zu schreiben. Mit anderen Worten: Je befremdeter man auf dieses Buch schaut, desto bezwingender sind seine Logik und Wirkung.

Ferenc Barnás: Ein anderer Tod. Roman. Aus dem Ungarischen von Eva Zador. Nischen Verlag, Wien 2016. 360 Seiten, 22 Euro.

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