Festival:Entrückte Zauberer

Lollapalooza 2016

Ungewohnt versöhnlich: Radiohead-Sänger Thom Yorke am vergangenen Sonntag auf der Hauptbühne des Lollapalooza-Festivals in Berlin.

(Foto: Sophia Kembowski/dpa)

New Order, Radiohead, Trottel-House und die Frage, was 70000 Menschen mit einem Park machen - das Lollapalooza-Festival in Berlin.

Von Annett Scheffel und Jens-Christian Rabe

Zweimal etwa 70 000 Menschen überrollten anlässlich des Lollapalooza-Pop-Festivals am vergangenen Wochenende den Treptower Park in Berlin. Einst gegründet vom Jane's-Addiction-Kopf Perry Farrell, einem der Fürsten des alternativen Indierocks der Neunziger, ist das Lollapalooza mittlerweile ein um die Welt wanderndes gigantisches Mainstream-Pop-Spektakel, bei dem man die Wunder und die Wirrnisse der zeitgenössischen Popkultur in jeder Sekunde vor der Nase hat. Grund genug für eine kleine Sammlung bemerkenswerter Momente.

Bei jedem Auftritt einer verdienten älteren Band steht ja längst auch immer die Frage mit auf der Bühne, wie man denn nun in Würde alt werden kann, ohne aufzuhören, so zu leben, wie man es sich einmal gewünscht hat. Und ob das der jeweiligen Band nicht irgendwie doch ganz gut gelingt. Also natürlich auch beim Konzert der Elektro-Pop-Pioniere New Order am Samstagabend. New-Order-Kopf Bernard Sumner ist ja im Januar auch schon 60 Jahre alt geworden. Und was muss man sagen? Tja, vielleicht so viel: Wenn man das Glück hatte, Musik zu erfinden, die langsamer altert als man selbst, ist das ohne Zweifel ein Vorteil. Und wenn man sich dann noch hier und da so vergnügt dazu im Kreis zu drehen versteht wie Sumner, dann ist doch vorerst wirklich alles, alles gut.

Die zentrale Mittelachse des Festivals, die sonst die Puschkinallee durch den Park ist, hatten die Veranstalter für einen der Hauptsponsoren zur "Absolut Allee" gemacht. Einfälle dieser Art gehören natürlich längst zum Marketing-Repertoire internationaler Großveranstaltungen. Und doch stand man staunend vor den fein säuberlich mit dem neuen Namen überklebten alten Straßenschildern und fragte sich, ob so unauffällige Werbung nun der Gipfel der Perfidie ist - oder nicht beinahe schon wieder etwas Erhabenes hat.

Lag es eigentlich an der staubigen Hitze, dass man jedes Mal, wenn man an der Reihe mit fast hundert kerzengerade nebeneinander platzierten Dixie-Klos vorbeikam, mehr den Eindruck hatte, dass das doch eigentlich eher eine Installation als eine Destination war? Altes Pop-Prinzip: Eine gute Idee kann man einfach dadurch zu einer fantastischen Idee machen, indem man sie ganz oft hintereinanderhängt. Man nennt es auch Sampling. Besonders schön war die Dixie-Allee übrigens, wenn fünf oder mehr Personen exakt gleichzeitig die Boxen verließen.

Was für ein Glück, dass es zwischen gefälligem Mainstream-Indiepop (Years & Years) und gesichtslosem Party-Bumms (Lost Frequencies) am Sonntagnachmittag in Róisín Murphy auch ein echtes Original zu bestaunen gab. Völlig ungreifbar war diese Zauberin des Dance-Pop in ihrer Impulsivität und Verve auf der Bühne. Wie sie alle paar Minuten neue Hüte, Masken, Umhänge aus ihrem herumliegenden Fundus anlegte - das war vielleicht die schönste Dekonstruktion des Madonna'schen Kostümwechsels, die man je gesehen hat. Es war, als sähe man einem Kind beim Spielen zu, das trotzdem heftig mit seinen Zuschauern schäkert und dabei wie nebenbei auch noch feine Disco-Tracks präsentiert. "Overpowered" spielte sie in einer kauzigen Banjo-Version. Dass die Leute ihren größten Hit sofort erkennen, darauf kommt es einer Róisín Murphy nicht an.

Der Brite James Blake, selbstversunken auf seine Keyboards und Synthesizer hinabblickend, nahm sich unterdessen der Frage an, wie man Musik, die eigentlich gar nicht für Live-Auftritte konzipiert ist, doch auf die ganz große Bühne bringt. Denn die schattenhaften, fragilen Dubstep-Soul-Hybriden des 27-jährigen Londoners erschienen hier im Freien, bei Tageslicht und vor einem von der Sonne aufgeheizten und eingestaubten Festival-Volk, zunächst als krasser Gegenentwurf zur klassischen Rockshow. Dass das Konzert doch gelang - und das Publikum bald kollektiv in Zeitlupen-Bewegung verfiel - kann nur an diesem entrückten Zauber seiner Songs gelegen haben: Auch fünf Jahre nach "Limit To Your Love", mit dem er fast im Alleingang ein neues Genre, den Popstep, erfand, beherrscht Blake das kunstvolle Stapeln von tiefsten Bässen, Piano-Akkorden, Synthesizer-Schlieren und schwermütigen Gospel- und Balladengesängen immer noch so meisterlich wie niemand sonst.

Und was war nun mit Radiohead? Mit ihrem Auftritt, auf den dieses ganze heiße, dicht gedrängte Festival unaufhörlich zusteuerte? Nun, die Band lieferte tatsächlich die ganz große, gewichtige Show. Zwei Stunden, in denen sich Licht- und Soundgewitter mit zarten Momenten abwechselten. Und in denen die britische Avantgarde-Pop-Band um Thom Yorke und seine famos leiernde, krächzende Schmerzensstimme beinahe ihren gesamten Back-Katalog - "OK Computer", "Kid A", sogar "The Bends" - abwanderte. Ungewohnt versöhnlich zeigten sie sich mit ihrem frühen Werk, von dem sie sich in den vergangenen Jahren immer wieder distanziert hatten, weil es ihnen zu konventionell rockig erscheint.

Am Ende warfen sie der erschöpften, mondbeschienenen Menschenmasse sogar noch ihren alten Hit "Creep" hin. Nicht, dass sie es dem Publikum von Beginn an leicht gemacht hätten: Auf das Eröffnungsstück "Burn The Witch" (vom neuen Album "A Moon Shaped Pool") mit seinen unheilvollen Streichern folgte eine Reihe von ruhigen, verschleppten Liedern (am schönsten: "Daydreaming"), die die Hochstimmung zunächst kunstvoll ausbremsten. Welche andere Band könnte Zehntausende Menschen, die gerade noch beim Dancehall-Elektro-Geballer von Major Lazer heißgelaufen waren, dazu bringen, derart andächtig zu lauschen?

Auf eine dagegen seltsam bierselige Weise schien, sobald man das Festivalgelände betreten hatte, auch die ganze dicke Luft vergessen zu sein, die es im Vorfeld um die Wahl des Treptower Parks als Austragungsort gegeben hatte. Um Naturschutz ging es da, um die zeitweise Aussiedelung von Igeln und die 13 Millionen Euro, mit denen der Park gerade erst saniert worden war. Nicht, dass er nicht auch ein bisschen recht gehabt hätte - aber als Maurice Ernst, Sänger der Band Bilderbuch, mit der Bemerkung "Draußen schimpfen sie und machen Wahlkampf mit uns" aufzutrumpfen versuchte, da kam einem diese Die-da-draußen-wir-hier-drinnen-Haltung doch etwas seltsam vor. Denn 140 000 Menschen gehen an einer Grünanlage alles andere als spurlos vorüber. Am Oxfam-Stand konnte man dafür an einem bunten Nachhaltigkeitsrad drehen.

Wird sich die Popmusik dereinst tatsächlich darauf beschränken können, im Wechsel den Bass heraus- und dann wieder hereinzudrehen, wie es mit unübersehbar riesigem Effekt immer wieder der britische Trottel-House-DJ Jonas Blue tat? Womöglich. Andererseits hatte sein Auftritt fast schon wieder etwas Metaphysisches. Die Sonne schien, und die Essenz von Pop wehte einem heftig in die Beine.

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