Auf den Spuren der Wut (1):"Ich würde zuschlagen, wenn ich könnte"

Auf den Spuren der Wut (1): Wut und Existenzangst - auf der Suche nach einem Ventil.

Wut und Existenzangst - auf der Suche nach einem Ventil.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ.de)

Viele Deutsche leben am Existenzminimum. Ihre Wut frisst sich in die Gesellschaft - eine Spurensuche.

Von Hans von der Hagen

Der Satz kommt wie ein Überfall aus der heiter plaudernden Frau: "Ich habe dem Staat gekündigt." Sie wohnt in Berlin, man sitzt zusammen beim Asiaten an der Schnellstraße Tempelhofer Damm. Sie kommt ins Erzählen, es ist ein privater Termin, keine Sätze für die Presse. Irgendwann aber geht es um Hartz IV. Seit vielen Jahren bekommt sie staatliche Unterstützung, darum will sie auch nicht, dass ihr Name in der Zeitung steht. Noch mal nachgefragt: Dem Staat gekündigt? Das klingt wie ein Scherz. Aber sie bestätigt noch einmal: "Ja, ich habe dem Staat gekündigt."

Auslöser war ein in der Hartz-IV-Welt durchaus alltäglicher Grund: Als die Frau nach Berlin zog, überwies ihr eine Freundin einige Monate lang etwas Geld. Es sollte ihr den Neustart erleichtern. Das Jobcenter sah die Überweisung auf den Kontoauszügen, deklarierte das Geld als normales Einkommen, kürzte die staatliche Unterstützung und forderte die Frau auf, das Geld aus den Vormonaten zurückzuzahlen. An die Behörde, nicht an den Schenker.

"Das war atemberaubend", sagt sie. "Der Staat geht dir wirklich an die Gurgel." Hartz IV sei doch schon das Existenzminimum. "Wenn dir davon noch 100 Euro im Monat genommen werden, bekommst du Angst vor jedem neuen Tag."

Die Angst paarte sich mit einer Wut, die sie bis heute nicht mehr loswurde. Vergleichbare Ereignisse im Jobcenter bestärkten sie in ihrer Ansicht. Nun ist sie Wutbürgerin.

Geht es nur ihr so? Oder beschreibt der Satz eine verborgene Wut vieler, die sich nach und nach in die Gesellschaft hineinfrisst? Viele Ökonomen sehen Hartz IV als Erfolgsmodell, das viele Menschen in Arbeit bringe. In den Jobcentern selbst ist die Bilanz nüchterner. Dort heißt es: Anfangs lief es tatsächlich gut. Seit der Finanzkrise aber seien viele Jobs für ungelernte Menschen weggefallen, sodass die Vermittlung erheblich schwieriger geworden sei. Derzeit beziehen rund sechs Millionen Menschen in Deutschland Hartz IV. Eine weitere Million Menschen sind auf die Grundsicherung im Alter oder wegen Hilfsbedürftigkeit angewiesen. Fast neun Prozent der Bevölkerung sind also von Sozialhilfe abhängig.

Heiliger Zorn

Wer Antworten auf solche Fragen sucht, sollte bei Herrn Wockelmann vorbeischauen. Wockelmann ist 61 und lebt in Iserlohn. Sieht man ihn mit seinem mächtigen Bart, fühlt man sich an den verstorbenen Übersetzer und Schriftsteller Harry Rowohlt erinnert. Von dem hat er zwar noch nie gehört, nimmt aber erleichtert zur Kenntnis, dass Rowohlt ein streitbarer Mensch war. Streitbar akzeptiert Wockelmann sofort als Vergleich, denn auch er streitet oft. Er spricht allerdings lieber vom heiligen Zorn - das Erbe der Jesus People, zu denen er mal gehörte. Manchmal sagt er aber auch: "Ich würde zuschlagen, wenn ich könnte."

Der Erzürnte kämpft vor allem mit dem Jobcenter. Die Klagen gehen hin und her: Mal verklagt das Jobcenter ihn, mal er das Jobcenter. Dabei zieht er keineswegs nur im eigenen Namen vor Gericht - Wockelmann bekommt seit vielen Jahren Hartz IV -, er streitet auch für all jene, die ihn um Unterstützung bitten. Und das sind viele, denn 2009 hat der Iserlohner mit Freunden den Verein Aufrecht gegründet. Dessen Mitglieder beraten gemeinsam mit einem Rechtsanwalt Menschen in Not und begleitet sie auch zu den Gesprächen ins Jobcenter. Wockelmann hat das schon mehr als 500 Mal gemacht. Mit der Wut der Menschen kennt sich Wockelmann also gut aus.

Auf den Spuren der Wut (1): Ulrich Wockelmann: "Ich sach mal, wenn unten die Security sitzt und im dritten Stock passiert was. Bis der da oben ist, da ist schon alles gelaufen."

Ulrich Wockelmann: "Ich sach mal, wenn unten die Security sitzt und im dritten Stock passiert was. Bis der da oben ist, da ist schon alles gelaufen."

(Foto: hgn)

Versteht er, dass Menschen dem Staat kündigen? Natürlich. Er selbst hat aber gelernt, seinen Frust mithilfe der Gesetze zu kanalisieren. So wie viele andere auch: Derzeit sind bundesweit knapp 190 000 Klagen und fast ebenso viele Widersprüche von Hartz-IV-Beziehern anhängig. Allein im August gab es 54 400 neue Widersprüche und 10 200 neue Klagen. Es ist ein bürokratischer Irrsinn: Oft wird über Jahre hinweg vor Gericht um wenige Euro gefochten. Wockelmann sieht jenseits dieser Klagen aber auch die tiefer gehenden Übel des Systems Hartz: Die Kinder, die in diesem System mitgefangen sind. Sei es, weil sie schon in jungen Jahren im Jobcenter erscheinen müssen, sei es, weil sie als Jugendliche mit der Ausbildungsvergütung ihre Eltern mitfinanzieren müssen. Die Menschen, die nach und nach ihre sozialen Kontakte verlieren, weil das abgezählte Geld keine Beziehungen über die unmittelbare Umgebung hinaus zulässt. Die Kranken, bei denen erst mal alles abgelehnt wird: "Zähne, Brille, orthopädische Schuhe? Nur die Leute, die sich dann auf den Klageweg machen, haben eine Chance", sagt Wockelmann.

2007 hätten sie hier im Jobcenter die Scheiben eingeschlagen, erzählt er. Das hat ihn interessiert. Passiert so etwas öfter in Deutschland? Wockelmann ist mittlerweile juristisch so bewandert, dass er die Möglichkeiten des Informationsfreiheitsgesetzes, kurz IFG, bis ins Letzte ausreizt. Er weiß: Er hat ein Recht auf Antworten vom Staat, und gewöhnlich bekommt er die auch. Darum fragte er nach: Wie oft kommt es zu Polizeieinsätzen in Jobcentern?

Doch in diesem Fall bekommt er keine Antwort. Es gebe offiziell keine Statistik darüber, sagt Wockelmann. "Das ist ja das Verrückte." Darum hat er auf der von ihm initiierten Internetseite Beispielklagen.de unter dem Stichwort "IFG Anfrage 55 - Polizeieinsätze in Jobcentern" alles gesammelt, was er dazu an Artikeln finden konnte. Gut 450 sind es geworden. Darin geht es um knapp 30 Bombendrohungen, um "Leute, die was aufs Gesicht bekommen hätten", um Übergriffe mit Waffen und Werkzeug - und um die drei Menschen, die schon in Jobcentern starben. Dass die Aggression zunimmt, bemerkt auch der Leiter des Jobcenters Märkischer Kreis in Iserlohn, Volker Riecke. Gerade in den vergangenen beiden Jahren sei das spürbar geworden. Tätliche Angriffe gebe es zwar selten, zu verbalen Entgleisungen komme es dagegen viel häufiger.

Die Wut, die Aggression auf der einen Seite und die Furcht der Mitarbeiter auf der anderen. Wockelmann wundert sich, dass das so selten in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Und warum dafür keine Lösungen gesucht werden. "Das Jobcenter baut nur Sicherheitsschleusen, setzt die Geschäftsführung hinter Panzerglas und lässt die Security rumrennen." Hilft das? "Ich sach mal, wenn unten die Security sitzt und im dritten Stock passiert was. Bis der da oben ist, da ist schon alles gelaufen."

Es ist der Moment, wo Wockelmann überraschend milde die Mitarbeiter der Jobcenter in Schutz nimmt. Kurz zuvor hatte er sie noch im Gespräch als "Fürsten" gegeißelt: "Die Jobcenter-Mitarbeiter werden doch auch nur am Gängelband gehalten, die haben fast keinen Spielraum bei ihren Entscheidungen."

Für diese Erkenntnis habe er allerdings "ein paar Jährchen gebraucht". Anfangs habe er immer nur den Sachbearbeiter gesehen, der einem irgendetwas nicht gibt.

Menschen am Siedepunkt

Während Wockelmann das erzählt, gesellt sich Timo Saul dazu. Er ist 46 Jahre alt, bekommt ebenfalls Hartz IV und arbeitet bei Aufrecht. Er erzählt, wie Hartz IV die Leute immer wieder an den "Siedepunkt" bringe. Das Jobcenter kenne nur eine Formulierung: "Wenn du nicht, . . . dann . . ." Eingezäunt von Sanktionsdrohungen bis hin zur Haft werde den Arbeitslosen zugleich von der Öffentlichkeit und mitunter auch den Behörden signalisiert, dass sie überflüssig seien und ihnen trotzdem noch das "Geld in den Arsch geschoben" werde.

Am Ende "versumpfen die Menschen einfach", sagt Saul. "Die machen nicht mal mehr ihre Post auf. Die sind wie in einer Blase. Aus der schauen sie zwar noch heraus, aber sie bleibt zu, bis sie platzt."

Gibt es eine Lösung? Wockelmann hat eine Antwort parat: "Was bringt es, wenn das Jobcenter die Leute zwingt, 480 Stunden lang Bewerbungen zu trainieren. Das ist doch irre. Wenn man sich diesen Quatsch spart, kann man auch das bedingungslose Grundeinkommen finanzieren." Ein fester Betrag für jeden Bürger, der ohne Gegenleistung gezahlt werde, gebe den Menschen zumindest die Würde zurück.

Die Reise geht weiter nach Bielefeld. Hier an der Universität arbeitet Wilhelm Heitmeyer am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Jahrelang hat er es geleitet, mittlerweile ist er dort mit seinen 71 Jahren Senior Research Professor.

"Jargon der Verachtung"

So jemand sollte beurteilen können, warum im reichen Deutschland Menschen dem Staat kündigen. Heitmeyer sagt, wer diesen Schritt mache, fühle sich nicht mehr anerkannt und darum nicht mehr zugehörig. Das Kündigen bedeute, dass man wenigstens noch ein letztes Mal eine aktive Rolle einnehme. "Ich bin jetzt derjenige, der rausgeht. Ich habe die Nase voll. Und nicht der Staat schmeißt mich raus", erklärt er. Es sei der letzte Versuch, zu einem positiven Selbstbild zu kommen, das aus der Sicht Heitmeyer überlebenswichtig ist.

Zu oft würden Arbeitslose mit dem "Jargon der Verachtung" konfrontiert. Er erinnert an eine Broschüre des Bundeswirtschaftsministeriums. Erschienen 2005, in dem Jahr also, in dem Hartz IV in Kraft trat. Betitelt war sie mit "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat", und eine Passage darin ging so: "Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben', übereinstimmend die Bezeichnung 'Parasiten'." Heitmeyer spricht sehr ruhig, doch man merkt ihm die Empörung über die Formulierung in dieser Broschüre an, für die der damalige SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement die Einleitung formuliert hatte. In Deutschland sei die Kultur der Anerkennung verloren gegangen, weil im autoritären Kapitalismus Konkurrenz das bestimmende Prinzip geworden sei. Das habe die Gesellschaft vergiftet.

Denen, die nicht mehr mithalten könnten, bliebe nur Wut, die aber kein Ventil fände: "Wo soll man denn hinschlagen? Wer ist der Staat? Sind es die Mitarbeiter in den Jobcentern, die selbst eingemauert sind in Paragrafen-Gerüste?"

Wut, die in Apathie versinkt

Die zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft mache sich nicht nur in den Jobcentern bemerkbar, sondern erodiere die Regeln des Zusammenlebens. "Selbst die Notaufnahmestationen in Krankenhäusern versorgen sich mittlerweile mit Pfefferspray." Aber die Wut, die so viele empfänden, sei keine proaktive Wut, die auch Energie freisetze, Dinge zu verändern. Sondern eine Wut, die meist in Apathie versinke, gerade bei Langzeitarbeitslosen.

Das große Problem: Niemand habe eine Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollten. Deshalb habe in den vergangenen Jahren ein Begriff "wahnsinnig Karriere gemacht und ist deshalb hochgefährlich": Die Beschwörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das sei der letzte Versuch eines gesellschaftlichen Allesklebers und Beleg dafür, dass man nicht mehr weiterwisse.

Schafft es Deutschland also nicht, wieder zusammenzuwachsen? Heitmeyer sieht keine Lösung. Zumindest keine gute. "Es ist ja durchaus ein Zynismus, dass sich eine Gesellschaft stabilisiert, indem sie bestimmte Gruppen zu Randgruppen macht. Als Warnhinweis: Strengt euch an Leute, sonst seid ihr auch da unten." Der einflussreiche amerikanische Journalist Paul Samuelson habe Angst als unabdingbar für den gesellschaftlichen Fortschritt gesehen. Als gesellschaftlichen Fortschritt verkauften Politiker auch das Angstsystem Hartz IV, glaubt Heitmeyer.

Der Besuch bei dem Professor ist schon vorbei, als auf der Rückfahrt mit dem Zug plötzlich eine Mail eintrifft. Er schreibt: "Beim späteren Nachdenken ist mir aufgefallen, dass wir einen wesentlichen Punkt ausgelassen hatten: Bedingungsloses Grundeinkommen wäre die weitreichendste Maßnahme einer Würde sichernden Gesellschaft, die auch das leere Gerede, um nicht zu sagen, das verzweifelte Betteln von politischen Eliten um sozialen Zusammenhalt als Scheinlösung eines 'gesellschaftlichen Allesklebers' überflüssig machen würde."

Hier geht es zu Station 2 der Reportage Auf den Spuren der Wut:

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