Stadtflucht:Wer braucht schon München - wenn er in Marktredwitz wohnen kann

Rottalbahn

Rushhour im Rottal bei Bayerbach: In den Zügen der Südostbayernbahn ist noch Platz für neue Pendler.

(Foto: Sebastian Beck/oh)

Lange blickten bayerische Großstädter allenfalls mitleidig auf die ländlichen Regionen. Doch nun macht sich eine neue Lust auf das Landleben breit - denn das bietet einige Vorteile.

Von Markus Mayr

Oliver Weigel ist ein glücklicher Oberbürgermeister. "Wir haben es geschafft", sagt er und verkündet die gute Nachricht: Der Niedergang von Marktredwitz, einer Kleinstadt im Fichtelgebirge, ist endlich gestoppt. Nach der Grenzöffnung war in den Neunzigerjahren die heimische Textilindustrie mitsamt Tausender Arbeitsplätze nach Osten verschwunden, zurück blieben Brachen und leere Häuser. Doch seit zwei Jahren hat sich der Trend umgekehrt. Marktredwitz wächst wieder, die Zahl der Arbeitsplätze steigt. Behörden eröffnen Außenstellen, mittelständische Unternehmen siedeln sich an. Doch eins freut Weigel dabei ganz besonders: "Uns ist es gelungen, junge Familien anzusprechen." Die Schülerzahlen steigen wieder, die Wartelisten für die neu ausgewiesenen Bauplätze sind voll.

Lange blickten bayerische Großstädter allenfalls mitleidig auf die ländlichen Regionen im Nordosten des Freistaats, auf Oberfranken oder die Oberpfalz. Wenn die Sichtweite der Münchner oder Nürnberger überhaupt bis an die Ränder reichte. Seit geraumer Zeit jedoch mischt sich eine gewisse Sehnsucht in den Blick. Die Lust auf Landleben zieht die Menschen raus aus den Großstädten und rein in die sogenannte Provinz, egal ob in Richtung Alpen, Schwaben oder in wilde Grenzregionen.

Denn die einstige Herablassung weicht einer neuen Erkenntnis: Gutes Leben ohne schmerzvollen Verzicht ist auch da möglich, wo die Einkaufszentren kleiner sind, und die Theater nicht ganz so berühmt. Was in München Staatstheater heißt, das ist im Fichtelgebirge halt die Luisenburg, die älteste Freilichtbühne Deutschlands. Und nicht nur die Münchner Riem-Arcaden erfüllen jeden Wunsch. Das Kösseine-Einkaufs-Center in Marktredwitz tut's auch. Vor 60 Jahren fragte das Allensbacher Institut für Demoskopie die Deutschen zum ersten Mal, wo die Menschen mehr vom Leben haben. Die Hälfte der Befragten nannte damals die Stadt. Vor zwei Jahren war es nur noch jeder Fünfte.

In Bayern leben mehr als 60 Prozent der 12,8 Millionen Menschen in Städten und Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern, also in ländlichen Regionen. Und die Landbevölkerung wächst. Viele Kommunen schrumpfen zwar noch immer, Tirschenreuth in der Oberpfalz etwa, aber die negative Bilanz liegt vielerorts nicht am fehlenden Zuzug, sondern an der Sterberate. "Es herrscht Aufbruchstimmung", freut sich Thomas Edelmann, der im Auftrag des Landratsamtes Wunsiedel die Entwicklung der Fichtelgebirgsregion managt. Nürnberger und Münchner ziehen zu ihm aufs Land. Die Zahl der 30- bis 50-Jährigen steigt. "Das sind die Leute, die Familien haben oder gründen", sagt Edelmann.

Neu ist das Phänomen nicht, das salopp als Landlust bezeichnet wird. Gerade junge Familien wandern an den Rand einer Stadt oder ins Umland ab, bestätigt auch Konstantin Kholodilin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: "Das hat es schon immer gegeben." In den Neunzigerjahren seien die Vorortgürtel um die Großstädte gewachsen. Die zwischenzeitliche "Renaissance der Großstädte" ist aber anscheinend schon wieder vorbei - auch oder gerade in Bayern, wo selbst das Leben in den Vororten von München oder Nürnberg für die breite Masse kaum noch erschwinglich ist.

Kholodilin hat ermittelt, dass seit 2012 mehr Inländer aus München weg- als zuziehen. Eine Entwicklung wie sie auch in Berlin oder Hamburg zu beobachten ist: Die bayerische Landeshauptstadt würde schrumpfen, wenn nicht seit einigen Jahren vermehrt Menschen aus dem Ausland zuziehen würden. Anderen bayerischen Städten scheint es ähnlich zu gehen. Würzburg zum Beispiel ist tatsächlich geschrumpft. In den vergangenen fünf Jahren hat die Großstadt beinahe 10 000 Einwohner verloren, fast sieben Prozent.

Für eine regelrechte Stadtflucht kann Wirtschaftsforscher Konstantin Kholodilin keine Belege finden. Der Regionaldatenbank lässt sich nicht entnehmen, wohin die Münchner oder Würzburger abwandern - ob in die Provinz oder in andere große Städte. Eins ist indes sicher: "Die immer wachsende Abwanderung aus diesen Städten begann zu dem Zeitpunkt, als auch die Mietpreise kräftig anzogen", sagt Kholodilin. Während in München derzeit Durchschnittsmietpreise von 15 Euro pro Quadratmeter selbst einen Normalverdiener zur Bescheidenheit verdammen, bleibt anderswo mehr vom Gehalt übrig: Der mittlere Mietpreis liegt im Fichtelgebirge bei gerade einmal vier Euro pro Quadratmeter.

Die individuellen Gründe für einen Umzug von München nach Marktredwitz mögen vielfältig sein. Auf der Hand liegen die niedrigen Preise und die gute Versorgungslage. Und die Natur, die stets ganz nah ist. Rad- und Wanderwege schlängeln sich jenseits der Stadtgrenzen über bewaldete Hügel. Oberbürgermeister Weigel gerät regelrecht ins Schwärmen: "An so einem Spätsommertag wie heute, wenn ich über die Felder in die Berge schaue, dann muss ich sagen: Bei uns ist's schon schön."

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