Alternative Schulmodelle:Große Freiheit

Alternative Schulmodelle: Sie haben Unterricht, während andere im Urlaub sind: Die Schüler Ruben und Remy lösen an der Casa-Schule in den Niederlanden ein Geografie-Quiz, mitten im Hochsommer. Ob die Regierung das Konzept eines Tages für alle Schulen einführt, ist völlig offen.

Sie haben Unterricht, während andere im Urlaub sind: Die Schüler Ruben und Remy lösen an der Casa-Schule in den Niederlanden ein Geografie-Quiz, mitten im Hochsommer. Ob die Regierung das Konzept eines Tages für alle Schulen einführt, ist völlig offen.

(Foto: Fabian Busch)

Im Sommer zur Schule, danach in den Urlaub? Das gibt es - in elf niederländischen Modellschulen. Dort kennt man keine festen Unterrichtszeiten. Doch die Methode birgt auch unerwartete Probleme.

Von Fabian Busch

Wenn andere Schüler freihaben, können die Kinder und Jugendlichen der Casa-Schule in der Nähe der niederländischen Stadt Den Haag in Ruhe lernen. Vor wenigen Wochen, mitten in den niederländischen Sommerferien, sagt die achtjährige Schülerin Seline Tas: "Jetzt ist es schön ruhig, da kann man sich besser konzentrieren." Wenn alle Schüler da sind, betreuen in der Klasse zwei Pädagoginnen zusammen 43 Kinder. Doch nun, im Sommer, ist Lehrerin Annemieke van der Put alleine mit 15 Schülern. Die einen lösen ein Geografie-Quiz, die anderen frühstücken. Ein Mädchen hat sich in eine Ecke zurückgezogen, um eine Geschichte zu schreiben. 50 von 52 Wochen im Jahr ist die Casa-Schule geöffnet. Die Montessori-Schule ist eine von elf Grundschulen, die an einem Experiment des niederländischen Bildungsministeriums teilnehmen: Sie haben keine festen Unterrichts- und Ferienzeiten. Kinder können hier freinehmen, wann es ihren Familien passt - also traditionell im Hochsommer oder auch jetzt, im Oktober, wenn keine Ferien sind.

Lernen, während andere ausschlafen oder an den Strand gehen? Der achtjährige Ruben Hillenaar findet das nicht schlimm. "Ich gehe gerne in die Schule. Und außerdem fahre ich in zwei Wochen mit meiner Familie weg", sagt er. Die flexiblen Unterrichtszeiten passen zum pädagogischen Konzept des Hauses - denn an Montessori-Schulen soll ohnehin jedes Kind selbständig in eigenem Tempo lernen. In einem Computersystem können Eltern verfolgen, welche Lektionen und Tests es durchlaufen hat und so den Lernfortschritt kontrollieren.

Für Kinder an den elf teilnehmenden Schulen gilt: Sie müssen mindestens 940 Schulstunden pro Jahr absolvieren, es können aber auch deutlich mehr sein. An der Casa-Schule nehmen die Schüler im Schnitt acht Wochen Urlaub pro Jahr - an den regulären Schulen sind zwölf bis 14 Wochen Ferien üblich. Die Gefahr, dass Eltern ihrem Nachwuchs zu viel Unterricht zumuten, ist also auch nicht ganz auszuschließen. Sehr vereinzelt sei das auch schon vorgekommen, erklärt Karin Keizer, eine der beiden Direktorinnen. Dann sei es die Aufgabe der Lehrer, den Eltern klarzumachen, dass das Kind urlaubsreif ist.

Die Regierung zögert noch - und hat die Probephase um ein paar Jahre verlängert

Die niederländische Regierung hat sich noch nicht dazu durchringen können, das Modellprojekt zu beenden oder die Unterrichtszeiten im Land grundsätzlich freizugeben - obwohl man dies schon vor zwei Jahren entscheiden wollte. Gerade erst wurde die Modellphase bis zum Jahr 2018 verlängert. Es habe noch nicht genügend Anhaltspunkte für eine Entscheidung gegeben, schreibt der zuständige Staatssekretär in einem Brief an das Parlament. Wissenschaftler der Universität Nimwegen sind in einer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass flexible Öffnungszeiten zwar die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern können. Einen positiven Effekt der meist längeren Lernzeit auf den Lernfortschritt haben sie aber nicht nachgewiesen.

Marjolein Ploegman ist nicht ganz glücklich mit dem Verlauf des Projekts - obwohl oder gerade weil sie die ganze Sache angestoßen hat. Sie gehörte 2008 zu einer Bürgerinitiative, die die Grundschule "De School" in der Küstenstadt Zandvoort ins Leben rief. Es war die erste Schule, welche die verpflichtenden Ferienzeiten abgeschafft hat. Ploegman hatte dabei nicht nur die Eltern im Blick, sondern vor allem die Schüler. Als Beraterin im beruflichen Schulbereich war sie auf Probleme gestoßen, deren Wurzeln sie schon in einem viel früheren Alter vermutete: mangelnde Motivation, mangelnde Kenntnis der eigenen Stärken und Interessen.

Ploegman will, dass Kinder früh Spaß am Lernen entwickeln. "Unser Konzept basiert auf drei Säulen", sagt sie - und mit jeder davon reißt es Grenzen im bestehenden System ein. Schüler und Eltern sollen erstens Mitsprache beim Lernstoff haben, zweitens gibt es an "De School" keine klassischen Fächer. Stattdessen beschäftigen sich alle Schüler und Lehrer zehn Wochen lang projektorientiert mit einem großen Thema. Und als dritte Säule kommt die flexible Unterrichtszeit hinzu: "Wenn jedes Kind einen persönlichen Lehrplan hat, ist es nur logisch, dass auch die Unterrichtszeiten flexibel sind." Während der eine Schüler etwa von langen Sommerferien profitiere, könnten sie für den anderen einen Lernrückschritt bedeuten, sagt Ploegman.

In Deutschland wäre ein solches Modell undenkbar. Hier haben Schüler genau 75 Tage Ferien

In Deutschland haben die Kultusminister schon 1964 in einem Staatsvertrag festgelegt, dass Schüler 75 Ferientage im Jahr haben. Ein Konzept wie in den Niederlanden ist hierzulande kaum vorstellbar. Ihm seien ähnliche Ansätze in Deutschland nicht bekannt, sagt Dieter Lenzen, Bildungsexperte und Präsident der Universität Hamburg. Der Erziehungswissenschaftler findet den niederländischen Ansatz interessant, weist aber auch darauf hin, dass er nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren könne - man müsse sich dann eben ganz von der standardisierten Gleichzeitigkeit des Unterrichts verabschieden. Und Lehrer müssten bereit sein, ihren Unterricht so individuell zu gestalten, dass Kinder den Stoff vor- und nachholen können.

Auch in den Niederlanden wird noch mit dem Konzept gerungen. Während das Bildungsministerium der von Marjolein Ploegman gegründeten Grundschule in Zandvoort ein gutes Zeugnis ausstellt, haben Experten an mehreren anderen Schulen Mängel in der Unterrichtsqualität ausgemacht. "Das Experiment wurde schlecht umgesetzt", sagt Ploegman heute. Denn die Beweggründe der teilnehmenden Schulen waren unterschiedlich - manche Häuser versuchten in erster Linie, etwas gegen sinkende Schülerzahlen zu unternehmen, indem sie Eltern die Betreuung erleichterten. Die Schulen müssten ihr ganzes Lernsystem umstellen, sagt Ploegman: "Wenn man weiterhin klassischen Frontalunterricht macht, und dann kommt ein Kind an einem bestimmten Tag einfach nicht - das klappt natürlich nicht."

Umsonst ist die Freiheit nicht. An "De School" zahlen Eltern für das Komplettpaket mit den flexiblen Zeiten rund 470 Euro pro Monat, die Kosten sind allerdings steuerlich absetzbar. Sowohl die Grundschule in Zandvoort als auch die Casa-Schule bei Den Haag haben Wartelisten. Anders sieht es beim Anwerben von Lehrern aus. "Das bleibt schwierig, weil wir einiges verlangen", sagt Ploegman. Es gebe Schichtregeln wie in einem Krankenhaus. Lehrer an den Versuchsschulen profitieren zwar davon, auch außerhalb der Hochsaison in Urlaub fahren zu können. Dafür haben sie kein Feriengefühl wie an anderen Schulen, wo der ganze Betrieb im Sommer stillliegt.

Das gilt natürlich auch für Kinder und Eltern. Marlies Groen schickt drei Töchter auf die Casa-Schule. Ausschlaggebend waren für sie eigentlich die Montessori-Pädagogik und der Umstand, dass die Schule zweisprachig ist. "Aber die freien Zeiten sind ein angenehmer Nebeneffekt", sagt sie. In den Urlaub fahre die Familie in der Regel im Juni und September. "Und wenn es im April schon sonnig ist, nehmen wir manchmal einen Tag frei."

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