Deutsche Sprache:"Die deutsche Sprache stößt Teile der verkrusteten Grammatik ab"

Wie sprechen wir in 50 Jahren? Verflacht die deutsche Sprache? Linguist Uwe Hinrichs erklärt, was Einwanderung mit Sprachwandel zu tun hat - und wann der Genitiv verschwindet.

Interview von Johanna Bruckner

Dass sich unsere Sprache verändert, lässt sich überall im Alltag erleben: auf Schulhöfen, in Cafés und im Gespräch mit Nachbarn. Höchste Zeit für ein Gespräch mit Uwe Hinrichs, Professor für Südslavische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität Leipzig. Der Linguist sieht den Sprachwandel im Gegensatz zu seinen Kollegen positiv. Sein Buch "Multi Kulti Deutsch: Wie Migration die deutsche Sprache verändert" ist 2013 in der Beck'schen Reihe erschienen.

SZ.de: Herr Hinrichs, gibt es einen sprachlichen Fehler, der Sie ärgert?

Uwe Hinrichs: Wenn bei Restaurantnamen wie "Kathrin's Depot" ein falscher Apostroph steht - das tut meinem Auge weh. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass sich meine Ohren sehr schnell an sprachliche Veränderungen gewöhnen. Ich versuche, das nicht zu verurteilen, sondern erst einmal zu registrieren. Kein Fehler ist zufällig.

Wie meinen Sie das?

Jeder sprachliche Fehler lässt sich auf gesellschaftliche Veränderungen zurückführen oder deutet künftige Veränderungen an. Wir haben seit 50 Jahren Migration. Es gibt Germanisten, die sagen, dass das Deutsche in eine neue Phase eingetreten ist. Alle Migrationsbewegungen davor waren geografisch begrenzt, sie veränderten die Sprachsituation im Prinzip nicht. Das ist seit den Gastarbeitern und Folgegenerationen anders. Die Schere zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen entwickelt sich immer weiter auseinander.

Wie äußert sich das?

Es gibt ein mündliches Deutsch, das nicht festgelegten Regeln folgt, wofür es keine Grammatik gibt. Nehmen Sie die "Allereinzigste": Diesen doppelten Superlativ werden Sie den Leuten nie austreiben können, weil Dopplung einfach zum Sprechen dazugehört. Demgegenüber steht das traditionelle, philosophisch behaftete, hochgrammatische Hochdeutsch.

Die Diskussion um Sprachwandel wird emotional geführt, viele Kritiker beklagen eine Verflachung der deutschen Sprache.

Diesen Kulturpessimismus halte ich für nicht angebracht. Ja, die deutsche Sprache wird durch den ständigen Sprachkontakt - also das Aufeinandertreffen mit anderen Sprachen - einfacher. Sie befreit sich von ihrem schweren hochsprachlichen Erbe, stößt Teile der verkrusteten Grammatik ab. Dadurch wird sie flexibler, effektiver, besser handhabbar. Sprache dient in erster Linie der Verständigung. Und zur Verständigung reicht es vollkommen zu sagen: Eine Maßnahme machen, einen Film machen, ein Tor machen - Verben wie durchführen, drehen und schießen braucht es nicht unbedingt.

Wie werden wir in 50 Jahren sprechen?

Ich beobachte drei Trends. Der erste, die Anglisierung, hält schon eine Zeit lang an und wird fortschreiten. Immer mehr englische Redewendungen wandern ins Deutsche ein, beispielsweise über die Synchronisation von Filmen und Serien - das nehmen wir häufig gar nicht bewusst wahr. "Wir hatten Spaß", "Es macht Sinn", "Ich bin da ganz bei Ihnen", "Willst du drüber reden?" - von diesen Versatzstücken wird es immer mehr geben. Außerdem hören Sie immer häufiger Steigerungsformen, die an den angloamerikanischen Sprachgebrauch angelehnt sind.

"Es ist ein Horror, Sprachen mit vielen Fällen zu lernen"

Haben Sie ein Beispiel?

Es heißt dann "Ich bin mehr aufgeregt als du", und nicht mehr "Ich bin aufgeregter als du". Auch fast alle Migrantensprachen steigern auf diese Art und Weise. Eine weitere Entwicklung: Viele Sprachen in Europa bewegen sich weg von den Kasus.

Wie kommt das?

Das hat wiederum mit der Migration zu tun. Es ist ein Horror, Sprachen mit vielen Fällen zu lernen, wie etwa das Russische oder Litauische mit sechs oder sieben Kasus. Das Deutsche hat immerhin vier. Ein großer Trend ist, dass die Kasus ergänzt werden durch Präpositionen. Migranten bevorzugen intuitiv diese Form mit Präposition. Sie sagen nicht "die Bedeutung des Spektrums", sondern "die Bedeutung von dem Spektrum".

Solche Konstruktionen hört man auch von Deutsch-Muttersprachlern.

Das ist für mich der dritte große Trend: Es gibt mehrere Varianten, etwas auszudrücken - und die Toleranz dafür wächst! Natürlich werden Sie immer Sprachpedanten haben, aber die Rechthaberei macht zunehmend einer sprachlichen Gelassenheit Platz. Bleiben wir beim Genitiv: "Das Haus meines Vaters", "das Haus von meinem Vater", "meinem Vater sein Haus" - in der Umgangssprache sind alle drei Formen üblich. Ich vermute, dass der echte Genitiv in 30 bis 40 Jahren verschwunden sein wird.

Die Grammatik wird also einfacher. Bedeutet das langfristig auch das Aus für die Artikel - der, die, das?

Die Artikel haben einen ganz schlechten Stand, weil die meisten Migrantensprachen keine Artikel kennen. Die Ausnahme ist das Arabische, aber da wird der Artikel oft verschluckt. Menschen, die eine Sprache neu lernen, übertragen automatisch Muster, die sie aus ihrer Muttersprache kennen. Artikel braucht man zur Kommunikation nicht unbedingt, also fallen sie weg. Nehmen Sie das Kiezdeutsch, wie es beispielsweise in Neukölln gesprochen wird: Da kommen Artikel überhaupt nicht vor. Seit zehn, 20 Jahren können Sie beobachten, dass auch Deutsch-Muttersprachler immer mehr Probleme haben mit den Artikeln. "Wenn Sie hier Problem vermuten", "es kam dann zu Prozess" "das ist der Kevin". Wohin das führt? Im Englischen hat es dazu geführt, dass man seit dem Mittelenglischen nur noch einen Artikel hat.

Stichwort Kiezdeutsch. Das hört man mittlerweile auch auf dem Schulhof eines Gymnasiums in Starnberg.

Das Kiezdeutsch ist dem ersten Stadium entwachsen, wo es auf einen regionalen Raum begrenzt war. Mittlerweile wird es anderswo imitiert, manchmal auch comic-haft verwendet. Es dient als Jugendslang, wird als Identifikationssprache gebraucht, auch unter Nicht-Migranten.

Halten Sie es für möglich, dass wir irgendwann eine ähnlich starke Diskrepanz zwischen Gesprochenem und Geschriebenem haben werden wie im Schweizerdeutschen?

Schüler erleben schon heute, dass sich das Deutsch, das sie im Unterricht lernen, eklatant von dem unterscheidet, das sie in der Pause auf dem Schulhof sprechen. Allerdings hat das Deutsche eine sehr starke hochsprachliche - ich möchte fast sagen: steinerne -Tradition. Bis die aufbricht und sich die aktuellen Entwicklungen in der geschriebenen Sprache niederschlagen, wird es lange dauern. Im Russischen wurde irgendwann eine eigene Grammatik des mündlichen Russisch aufgeschrieben - das kann ich mir hierzulande nicht vorstellen. Aber vielleicht wird man demnächst Umgangssprache als eine Variante im Deutschunterricht besprechen und analysieren.

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