Hergé:Die hohe Kunst der Nebenhandlung

Eine Ausstellung im Pariser Grand Palais widmet sich dem Werk des belgischen Zeichners, dem Erfinder von "Tim und Struppi". Der war ein Meister des klaren Strichs und ein Perfektionist.

Von Joseph Hanimann

Im unvollendet gebliebenen Album "Tim und die Alpha-Kunst" von Hergé kommt Kapitän Haddock mit einem Plexiglasobjekt in Form eines "H" nach Hause und erklärt seinen verwunderten Kumpanen, das sei ein Kunstwerk. Doch, doch, so sei die Kunst nun mal: nutzlos. Nicht ausgeschlossen, dass Hergé damit einen ironischen Blick zurück auf seine eigenen künstlerischen Anwandlungen warf. 1960 begeisterte sich der berühmte Comiczeichner im Alter von 53 Jahren plötzlich für die zeitgenössische Kunst. Er sammelte Werke von Roy Lichtenstein, Lucio Fontana, Alechinsky, ließ sich von Andy Warhol porträtieren und begann selber zu malen. Immerhin war er klug genug, dies bald wieder zu lassen. Seine abstrakten Kompositionen auf Leinwand wirken wie etwas fade Nachahmungen von Miró, Paul Klee, Serge Poliaokoff.

Im Pariser Grand Palais dient diese Episode als Einstieg in eine große Retrospektive. Zum ersten Mal stellt diese sonst den Meistern aus Malerei und Skulptur gewidmete staatliche Galerie in so breitem Rahmen einen Vertreter des Zeichenstifts aus. Und der Einstieg ist vorzüglich gewählt. Die Kunst, für die Hergé - wohl auch epochenbedingt - sich interessierte, war jene der klaren und einfachen Formen Tom Wesselmanns und Jean Pierre Raynauds, der flächigen Monochrome Auguste Herbins, der hintergrundlosen Direktheit der Pop-Art überhaupt, der Schärfe des Strichs bis hin zur Leinwandritzung Fontanas. Die "ligne claire", die klare, gleichmäßige Linienführung auf dem Papier, die Hergé auszeichnet, ist grafisch jener Kunst der Sechzigerjahre besonders verwandt. Und doch ist sie gleichzeitig das Ergebnis eines wahren Strichgemetzels auf den zahllosen Skizzenblättern. Dies zeigt die Pariser Ausstellung, die einen Blick in die Entstehung von Hergés Figurenwelt werfen will, mit überzeugenden Beispielen.

Der Mann mit dem stets perfekt gescheitelten Haarschnitt und dem klaren Blick hat durch unerhörten Arbeitseinsatz zu verbergen vermocht, wie kompliziert oft der Weg zu seinen unmittelbar einleuchtenden Figuren war. Dreißigmal neu anfangen und dann den besten Versuch nehmen - das riet er den jüngeren Zeichnern. "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lang und schwierig das ist", gab er allerdings in einem Brief an den Kollegen Numa Sadoul zu: Es komme der Mühe "eines Uhrmachers oder eines Benediktinermönchs, eines Benediktineruhrmachers" gleich.

Dank dieses Einsatzes hat der geschäftige Unternehmer aus einfachen Familienverhältnissen, der seine Brüsseler Heimat sein Leben lang kaum verließ, Figuren geschaffen, die die Welt eroberten: den kugelgesichtigen Tim und dessen treuen Hund Struppi, den rührenden Griesgram Haddock, den reinen Erfindergeist Bienlein, die temperament- und stimmgewaltige Castafiore und die übrigen Herrschaften aus dem Kreis von Schloss Mühlenhof. Überzeichnete Gesichtszüge, Grimassen und Monster gibt es hier nicht. Vergrößerte Punktaugen und manchmal ein Schweißtropfen am Ansatz von Tims Haarbüschel sind schon im Erstlingswerk "Tim im Land der Sowjets" 1929 die einzigen Zeichen von Sorge oder Triumph, wenn der flotte Reporter Tim in die Bredouille gerät und beim Entkommen dann den kommunistischen Stümpern eine Lektion verpasst. Hergés Kreaturen sind verschämte Gesellen. Und auch die Fakten sind nie einfach Sprungbrett ins Fantastische. In Sachen Science-Fiction wurde gründlich recherchiert. Für "Schritte auf dem Mond" ließ der Autor in seinem Zeichenstudio sogar speziell ein detailliertes Modell des Raumschiffs bauen, damit die Geschichte glaubwürdig erscheint.

Seelenspiegelung der Figuren erfolgt bei Hergé eher durch jeweils subtile Inszenierung von Nebenhandlungen, wenn etwa Haddock beim Zeitunglesen im Bus ein am Finger klebendes Heftpflaster loswerden will und damit die halbe Reisegesellschaft durcheinanderbringt oder wenn Struppi in kritischen Momenten seine ganze Aufmerksamkeit einer am Faden hängenden Spinne zuwendet. Die Pariser Ausstellung macht diese hohe Kunst der Nebenhandlung in ihrem Entstehungsprozess anschaulich, vom flüchtigen Szenenplan über die Detailskizze mit Bleistift, dann die Reinzeichnung mit Tinte bis hin zur abschließenden Kolorierung. Gegen Letztere hat der Künstler sich lange gesträubt, wohl wissend um die Wirkung seiner ausgesuchten Schwarz-Weiß-Kontrastierung in den frühen Arbeiten.

Hergé war ein Genie des Auges mit einer Begabung fürs Geschichtenerzählen. Das Denken lief bei ihm immer über den Stift. Allgemeine Begriffe, Theorien, Politik interessierten den ehemaligen Pfadfinder Georges Remi alias Hergé - sein Künstlername war eine Umkehrung der Initialen - nie so recht. Eine Eröffnung war für ihn 1934 die Begegnung mit dem chinesischen Zeichenstudenten Tschang Tschong-Jen, die ihm die Ästhetik des fernen Orients näherbrachte und die sich im Album "Der Blaue Lotos" niederschlug. Landschaften und kalligrafische Mauerinschriften treten da plötzlich als Sujets hervor, wohingegen die afrikanische Welt im Band "Tim im Kongo" plakativ im rudimentären Kolonialblick der Epoche stecken blieb.

Hergé ist die Vaterfigur des europäischen Comics, blieb aber stets ein Kleinunternehmer

Als die belgische Zeitung Le Vingtième Siècle und dessen Jugendausgabe Petit Vingtième, die Hergé leitete, nach dem Einmarsch der Nazis 1940 eingestellt wurden, wechselte der Zeichner umstandslos zu der von den Besatzern kontrollierten Zeitung Le Soir. "Tim und Struppi sind wieder da", verkündete deren Titelseite am 17. Oktober 1940 und zeigte einen flott auf der Landstraße durch eine unversehrte Umgebung in Richtung Brüssel schreitenden Tim, als wäre da nie ein Panzer vorbeigekommen. Ein Loch in Tims Schuhsohle ist die einzige Spur vergangener Strapazen auf dem offenbar langen Marsch zurück in die Normalität. Die Tätigkeit für das von den Nazis geduldete Blatt hat dem Autor nach dem Krieg Schwierigkeiten bereitet, doch konnte ihm keinerlei Sympathie für das Regime nachgewiesen werden. Hauptsache war für Hergé stets das Zeichnen. Dass sein Unternehmen auch nach dem Durchbruch seinen Werkstattcharakter bewahrte, ist das Besondere an dieser Vaterfigur des europäischen Comics. Hergé blieb ein Kleinunternehmer auf dem Weltmarkt des Zeichenstifts. Er versuchte sich in vielem, in den Dreißigern auch in der Werbegrafik - dies ist eine weitere Entdeckung in der Pariser Ausstellung. Geglückt ist Hergé vor allem eins: den Weltblick seiner Zeit auf den Punkt zu bringen.

Hergé. Grand Palais, Paris. Bis 15. Januar 2017. www.grandpalais.fr. Katalog 35 Euro.

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