Türkische Chronik (X):Wer war das Mastermind hinter dem Militärputsch in der Türkei?

Türkische Chronik (X): Die Nacht wird beherrscht von Erdoğan-Anhängern.

Die Nacht wird beherrscht von Erdoğan-Anhängern.

(Foto: Aris Messinis/AFP)

Die Geschehnisse des 15. Juli 2016 sind immer noch mysteriös. Wenn man sich in die chaotischen Ereignisse des Tages einarbeitet, stößt man nur auf seltsame Vorgänge.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Drei Monate sind vergangen, doch der blutige Putschversuch in der Türkei bleibt immer noch mysteriös.

Was passierte in der Nacht vom 15. Juli? Wer war das Mastermind hinter dem Putsch? Wer hat ihn ausgelöst? Wer säße jetzt in der Militärjunta, hätte der Putsch Erfolg gehabt? War er das alleinige Werk von Gülen-Anhängern, oder muss man ihn in größerem Rahmen als Schlag aus den oberen Rängen der Armee verstehen? Was sagt die fehlerhafte Ausführung über die Gründe des gesamten Scheiterns aus?

Über die Fernsehsender werden weiter Vorwürfe verbreitet. Die Selbstzensur ist so massiv und zur Norm geworden, dass die Sendungen an moderne Inquisition erinnern. Ernsthaften Journalisten wird abgeraten nachzufragen. "Wenn du Zweifel hast, bist du Teil des Komplotts der Fethulla Terrorist Organisation (FETO)," so eine gängiger Anwurf. Angst und Paranoia herrschen.

Der türkische Geheimdienst war über "subversive Vorgänge" informiert

Auch wenn man sich tief in die komplizierte, chaotische Choreografie der Ereignisse am 15. Juli einarbeitet, stößt man nur auf seltsame Vorgänge in den Stunden vor dem Putsch, an denen AKP-Mitglieder und oberste Militärs beteiligt waren.

Offizielle Aussagen und Daten bestätigen, dass der türkische Geheimdienst MIT bereits zwischen 15 und 16 Uhr über "subversive Vorgänge" im Militärhauptquartier informiert wurde. Es ist auch bekannt, dass Hakan Fidan, der Chef des MIT, zu dieser Zeit im Militärhauptquartier in Ankara ankam und Erdoğan über die heraufbrodelnde Meuterei informierte. Fidan traf den Chef des Generalstabes, Hulusi Akar, um die Angelegenheit zu besprechen.

Von da an sind die Ereignisse rätselhaft. General Akar wurde zwischen 21 und 22 Uhr festgesetzt, während der Putsch in vollem Gang war. Auch die Oberkommandeure der Teilstreitkräfte wurden verhaftet.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Ein Schlüsselrolle fürs Misslingen des Putschversuchs spielte die in Istanbul stationierte 1. Armee. Ihr Oberbefehlshaber, Ümit Dündar, hatte sich zu Beginn des Putschversuchs im Fernsehen ausdrücklich davon distanziert und wurde anschließend als kommissarischer Generalstabschef eingesetzt. Am letzten Dienstag nahm er vor dem Parlamentsausschuss Stellung: "Ich verließ meine Wohnung gegen 22.20 Uhr und fuhr in Richtung der Bosporus-Brücke. Ich versuchte auf dem Weg, unseren Stabschef, den zweiten Generalstabschef, den Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte und seinen Stellvertreter telefonisch zu erreichen, kam jedoch bei keinem durch." Er habe am Abend auch mit Necdet Özel gesprochen, Hulusi Akars Vorgänger.

Warum wurde die Zivilregierung am Freitag vom Putsch kalt erwischt?

Özels Rolle bei den Ereignissen könnte Licht ins Dunkel bringen. Schon in den frühesten Phasen des Putschversuchs telefonierte Özel mit Dündar. "Ich sagte ihm genau, was er machen solle," sagte er in einem Interview mit Al Jazeera. Als pensionierter Offizier hatte er aber keine Befugnisse. Er soll auch an Verhandlungen mit den Putschführern beteiligt gewesen sein.

Wenn der MIT die obersten Generäle informiert hatte, wie konnten sie dann nach etwa sechs Stunden in Handschellen verhaftet werden? Hatte ihr Oberbefehlshaber Akar sie nicht über die drohende Meuterei informiert? Warum wurde die Zivilregierung am Freitag vom Putsch kalt erwischt? Was passierte in den entscheidenden sechs Stunden zwischen Nachmittag und Mitternacht? Was geschah, bis die oberen Militärs am nächsten Tag wieder frei auftauchten?

Selahattin Demirtaş ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige Politiker, der direkt von "Feilschen" spricht. Er beharrte von Beginn an darauf, dass der Putsch eine Reihe nebulöser Ränkeschmiedereien unter den Generälen war. Im Interview sagte er: "Einige meiner Parteigefährten der HDP riefen Minister an. Die bestätigten, dass es einen Putschversuch gäbe und sie gerade mit den Putschisten verhandelten." Vermutlich, um sie zurückzudrängen. Mit Blick auf die AKP und die nationalistische Partei MHP sagte er letzten Dienstag: "Mindestens 80 oder 90 ihrer Delegierten waren über den Putsch informiert. Ein Großteil war von der AKP. Sie sprechen nicht darüber, weil sie Angst vor einer politischen Krise haben. Sie sollten offenlegen, wer davon wusste und wer Premierminister geworden wäre."

Liegen die Wurzeln des Putschversuchs im Bruch zwischen der türkischen Regierung und der Gülen-Bewegung?

Wenn es stimmt, erklärt es, warum Erdoğan und die Führung der AKP weiterhin so erpicht darauf sind, die FETO als alleinigen Drahtzieher darzustellen. Das sät natürlich noch mehr Argwohn unter den paar aufrichtigen Journalisten, die noch übrig sind. Einer davon ist der auch in Deutschland bekannte Ahmet Şık. Er war eines der Opfer im Fall Ergenekon und musste ein Jahr lang in Untersuchungshaft sitzen. Grund war sein unveröffentlichtes Buch, "Die Armee des Imam", das die Unterwanderung des türkischen Sicherheitssystems durch die Gülen-Bewegung untersuchte.

Şık ist bekannt für seine kritische Haltung. Der Blog Muftah fasst eine kürzlich gehaltene Rede zusammen: "Şık geht davon aus, dass die Wurzeln des Putschversuchs im Bruch zwischen der türkischen Regierung und der Gülen-Bewegung liegen. Allerdings stimmt er der Annahme der türkischen Regierung, der Putsch sei eine Verschwörung der Gülenisten gewesen, nicht zu. Şık glaubt, dass die Drahtzieher viel komplexere Motive haben und vermutlich auch Ultranationalisten darunter sind, also Kemalisten und Gülenisten in Opposition zu Erdoğan und seiner Regierung vereint sind, ebenso in der Offenheit gegenüber der PKK.

Şık glaubt, dass es Verhandlungen zwischen türkischem Geheimdienst, Zivilregierung und nationalistischen Offizieren gab. Der Putsch scheiterte, weil die türkische Regierung die Allianz zwischen Offizieren, die Gülen unterstützen, und denen, die ihn nicht unterstützen, erfolgreich zerschlug. Einer der wichtigsten Beweise ist die Tatsache, dass keine Pläne oder Diagramme der angestrebten Militärjunta aufgetaucht sind, seit Vereitelung des Putschversuchs. So ein Diagramm war bisher bei jedem Putschversuch in der Türkei ein zentrales Requisit. Laut Şık ist Erdoğan nur noch an der Macht, weil ein Kompromiss zwischen den nationalistischen und säkularen Seiten des türkischen Militärs erzielt wurde."

Der Journalist Ümit Kıvanç, bekannt für seine genauen Recherchen, hat die vielen Informationssplitter gesichtet und bezweifelt daher, dass der Putschversuch nur von Gülen-Anhängern in der Armee verübt wurde: "Nicht alle Verdächtigen sind Gülen-Anhänger. Verschiedenste Gruppen mit verschiedensten Motiven sind involviert. Es gab einen Aufstand, aber bereits in frühen Phasen haben einige Beteiligte ihre Pflicht nicht erfüllt, verrieten vielleicht andere oder überzeugten sie, überzulaufen. Das Chaos veranlasste wieder andere, auszusteigen. Als das Scheitern unvermeidbar wurde, gerieten einige in Wut oder versuchten, sich umzubringen. Man kann annehmen, dass für einige Hochrangige irgendwann nur noch wichtig war, sich selbst in besseres Licht zu rücken und die Fingerabdrücke zu verwischen.

Es gibt nicht mehr dazu zu sagen. Meine Recherche deckt sich größtenteils mit den Ergebnissen und Schlussfolgerungen meiner Kollegen. Ich hoffe, dass wir nicht noch weitere drei Monate warten müssen, um zu erfahren, was an diesem Tag tatsächlich geschah - einer der schwärzesten Tage, der alle noch so kleinen Hoffnungen auf Demokratie in der Türkei erstickte und dessen Ereignisse sich, gemessen an seinen extrem harten Konsequenzen, schnell zu einem Gegenputsch entwickelten.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P 24. 2014 wurde er mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Sofia Glasl.

Türkisches Tagebuch
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: