Türkei:Endstation Abgrund

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Can Dündar auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: imago/Future Image)

Der verfolgte Journalist Can Dündar berichtet auf der Buchmesse von Verfolgung und mutigem Widerstand in seinem Land. Erdoğan, sagt er, ist nicht die Türkei.

Von Alex Rühle

Ein Buch über 92 Tage Einzelhaft in der Türkei. So etwas stellt man sich grau und bleiern vor, den Autor dazu umwölkt von einer tragisch-resoluten Aura. Wie falsch, wie dumm, wie ganz, ganz anders:

Plötzlich steht da Can Dündar, freundlich lächelnd, witzig, ruhig. Zwischen den türbreiten Bodyguards, die ihn auf der Messe begleiten, wirkt der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet wie Lionel Messi zwischen Horst Hrubesch und Hans-Peter Briegel. Wie schade nur, dass die SZ das Gespräch mit Dündar nicht hatte ankündigen dürfen, aus Sicherheitsgründen. So erlebten nur wenige Messegäste diesen fulminanten Auftritt eines großen Mannes, der es gewagt hat, sein Buch "Lebenslang für die Wahrheit" im Gefängnis zu schreiben, handschriftlich, auf "Bedarfsscheine" für Alltagsgegenstände.

Dündar kam ins Gefängnis, weil er Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes nach Syrien aufgedeckt hatte. Ein mutiger Staatsanwalt erklärte das Urteil für ungültig, vorübergehend kam er frei. Nach einem Attentat, das er nur durch Glück überlebte, ist er aus der Türkei geflohen. Ähnlich wie bei unserem wöchentlichen Kolumnisten Yavuz Baydar wird die Ehefrau von Dündar aber weiterhin in der Türkei festgehalten. Als Geisel, wie Dündar selbst das nennt.

Er hat trotzdem den Mut, Erdoğan zu kritisieren. Auf der Messe beschrieb er die so brutalen wie skurril-kafkaesken Haftbedingungen - keine Buntstifte! - und Erdoğans Krieg gegen den unabhängigen Journalismus, nur drei Zeitungen können noch kritisch berichten, 130 Journalisten sitzen inzwischen in Haft. Er prophezeite, dass der Flüchtlingsdeal mit der Türkei scheitern werde, und kritisierte die EU dafür, nicht klar genug gegen Erdoğans Generalangriff auf alle demokratischen Strukturen zu protestieren.

Vor allem aber plädierte er dafür, Erdoğan und die Türkei nicht in eins zu setzen. Es gebe sehr wohl eine andere Türkei, die sich nach Europa und Demokratie sehnte, man denke nur an all die Leute, die während seiner Haft Platz nahmen auf einem Schemel vor dem Gefängnis, zur "Wache der Hoffnung". Oder an seine Kollegen, die es wagten, vor dem Gefängnis eine Redaktionsversammlung abzuhalten. Oder an den Staatsanwalt, der im Mai das Urteil gegen ihn kassierte, weil es nicht rechtens sei. Leider, so fügte er an, wäre all das jetzt, nach dem Putsch, nicht mehr möglich.

Auf die Frage, ob er überrascht war von Erdoğans brutalem Umbau des Landes und seinem autokratischen Gebaren, antwortete Dündar, Erdoğan habe schon 1995, als Bürgermeister von Istanbul, gesagt, die Demokratie sei nicht Mittel zum Zweck, sondern gleiche "einem Zug, der uns zu unserem Ziel bringen wird". Jetzt, so Dündar, rausche dieser Zug mit Volldampf auf den Abgrund zu.

Dündar plant zusammen mit anderen Kollegen im Exil eine türkischsprachige Internetplattform, er will von hier aus weiterhin freien, kritischen Journalismus machen.

© SZ vom 22.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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