Literaturhaus:Nachtgedanken

Autoren, die von der Welt erzählen, kommen im Programm des Literaturhauses zu Wort. Einer davon ist Mathias Enard mit "Kompass".

Von Ingrid Brunner

Happy places - das sind für Franz Ritter Istanbul, Beirut, Aleppo, Damaskus, Palmyra, Teheran - aber auch Paris, Berlin, Wien oder ein Schloss in der Steiermark. Orte, die der schrullige und einsame Wiener Musikwissenschaftler, Spezialist für orientalische Musik, im Laufe seiner akademischen Karriere besucht hat. Schauplätze, die ihn zugleich mit der brillanten französischen Orientalistin Sarah verbinden. Eine bedrohliche ärztliche Diagnose, deren finale Bestätigung zwar noch aussteht, aber nichts Gutes verheißt, bringt Ritter um den Schlaf. Wie ein Wetterleuchten in der Nacht ziehen all jene Orte des Glücks, Begegnungsorte mit seiner unerfüllten Liebe zu Sarah, an seinem inneren Auge vorüber. Er sinniert und fantasiert, kramt alte Korrespondenzen mit Sarah heraus. Auf 432 Seiten breitet der Autor Mathias Énard eine Nacht vor dem Leser aus. Sind es die Gedanken eines Sterbenden? Vielleicht auch.

Denn der Roman "Kompass", für den Mathias Énard 2015 den Prix Goncourt, Frankreichs prestigeträchtigen Literaturpreis, erhielt, ist vielschichtig. Auf der Oberfläche erzählt er in der Retrospektive von einer unerwiderten Liebe. Doch es geht auch um die alte Zuneigung zwischen Orient und Okzident, ein weiteres Band, das die Handlung zusammenbindet, die Faszination und Inspiration, mit der sich beide Kulturen schon etliche Jahrhunderte in Literatur, Musik, Wissenschaft gegenseitig befruchten. Énard lässt den Ich-Erzähler Hafis, Goethe, Mozart, Joseph von Hammer-Purgstall, den Mittler zwischen den Kulturen, und viele andere Protagonisten heraufbeschwören. Das verlangt dem Leser einiges an musikalischem, literarischem und historischem Wissen ab. Énard setzt, wenn nicht den idealen Leser, so doch einen mit einem breit gefächerten Bildungshorizont voraus. Es ist keine Gute-Nacht-Geschichte, im Gegenteil: Die Insomnia des Erzählers ist ansteckend. Hochachtung muss den beiden Übersetzern Holger Fock und Sabine Ritter gezollt werden, die es vermochten, diesen komplexen Text mit äußerst komplizierten Satzstrukturen in ein gutes, verständliches, ja schönes Deutsch zu übertragen.

Wer diese Leseklippen umschifft, wird belohnt. Dann nämlich entfaltet der Stoff einen Sog, der immer tiefer hineinzieht in eine verloren gegangene Welt. Verloren nicht nur für den Musikwissenschaftler Ritter, sondern für die gesamte Menschheit. In seiner Fantasie mäandriert Ritter zwischen idealisierter Vergangenheit und brutaler Gegenwart im Nahen Osten hin und her. In einer Nacht geht Ritters Welt unter - Ritters Innenschau zeigt zugleich eine untergehende äußere Welt: Die Verweise auf die Zerstörung der archäologischen Ausgrabungsstätten von Palmyra und ganzer Regionen sind integraler Bestandteil des Romans. Der Verlust eines Individuums wird zum Verlust aller. Logischerweise widmet Énard das Buch am Ende dem syrischen Volk.

Der Verlust eines Individuums wird zum Verlust aller. Logischerweise widmet Énard sein Buch dem syrischen Volk

Mit Énard verspricht das Literaturhaus München ein literarisches Erlebnis der Sonderklasse. Er setzt den erzählerischen Ton, den Tanja Graf, seit Juli dieses Jahres Leiterin des Literaturhauses München, für das gesamte Programm während des Literaturfests gesetzt hat. Das Motto lautet "Die Welt erzählen", und wie schon Énards Roman "Kompass" zeigt, bedeutet dieses Motto mitnichten, dass es nur um schöne Geschichten geht. Stets ist Literatur Spiegelbild und Seismograf der sie umgebenden Verhältnisse. Der Programmbogen ist weit gespannt - überspannt sogar, könnten Kritiker einwenden: Denn Ingo Zamperonis "Fremdes Land Amerika" erzählt sehr konkret vom befremdlich anderen Amerika, das Europäer zu kennen meinen - um dann konsterniert den Kopf zu schütteln über Phänomene wie Kreationismus, Tea-Party-Bewegung oder den brutalen Präsidentschaftswahlkampf. Am anderen Ende dieses Spektrums stehen Hanns-Josef Ortheils Bekenntnisse "Was ich liebe - und was nicht". In kurzen, essayistischen Texten geht er seinen Vorlieben und Abneigungen auf den Grund. Dazwischen: Große Namen wie Christoph Ransmayr, Sibylle Lewitscharoff, Elena Ferrante, Joshua Cohen, Shumona Sinha, die wieder von ganz anderen Welten erzählen.

Mathias Énard, Kompass, 16.11., 20 Uhr, Literaturhaus.

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