Literatur:Poesie der Zwischenwelt

Literatur: "Es ist ein großes Bedürfnis des Menschen, nicht vergessen zu werden", sagt der 43-jährige Schriftsteller Richard Lorenz aus Nandlstadt.

"Es ist ein großes Bedürfnis des Menschen, nicht vergessen zu werden", sagt der 43-jährige Schriftsteller Richard Lorenz aus Nandlstadt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Richard Lorenz war Krankenpfleger, bevor er Romane schrieb. Die Nähe zu den Sterbenden und Geknickten sucht er auch in seinen Texten. Auf Friedhöfen liest er den Vergessenen daraus vor

Von Bernhard Blöchl

An den großen Gräbern geht er vorbei, bei den kleinen hält er inne. Richard Lorenz trägt Hemd, Jeans und Mantel, das Markanteste ist sein zweiteiliger Bart, fast ein Kreuz in seinem Gesicht. Der Herbst schüttelt das Laub, wenige Tage vor Allerheiligen am Ostfriedhof. "Vor allem Kindergräber sind oft nicht gepflegt", sagt Lorenz und blickt zu Boden. Zu groß seien die Traumata, sei der Schmerz des Erinnerns. "Da setze ich an. Ich suche Gräber, die verlassen sind." Die Leben der Vergessenen reimt er sich zusammen, lässt Geschichten auferstehen anhand der Namen, Daten und Grabsteine. Der Friedhofs-Flaneur aus Nandlstadt bei Freising glaubt: "Es ist ein großes Bedürfnis des Menschen, nicht vergessen zu werden." Vergrabene Träume inspirieren diesen Mann.

Richard Lorenz ist Schriftsteller, einer der poetisch kraftvollen in der abseitigen Literatur. Weil er sich dorthin wagt, wo es weh tut. Zu den Toten und Sterbenden, den Gefallenen und Geknickten, den Kranken und psychisch Entrückten. Der 43-Jährige ist ein Meister der Melancholie, dem Sätze gelingen wie diese: "Wir brauchen alle einen Traum oder eine Sehnsucht. Damit wir atmen können und nicht nur nach Luft schnappen." Oder diese: "Bücher sind Sternenstaub. Hätten wir keine Bücher, hätten wir auch kein Leben. Es sind die Geschichten, die uns über die Nächte bringen."

Was einigen Kollegen das Happy End, ist Lorenz das End, genauer: die Zwischenwelt aus Leben und Tod, das Verwischen von Realität und Fantasie, das ewig Unklare. "Der Tod ist die maximale Form", philosophiert er. Der Romanautor preist in seinen Texten die Kraft der Geschichten und die der Träume, der Demut und der letzten Wünsche. Er lässt seine Figuren Gedichte für Sterbende vortragen, beschwört Tom Waits und Leonard Cohen und, ja, er lässt Menschen in den Himmel fallen.

Verblüffend sind auch seine Friedhofslesungen. Regelmäßig zieht es Richard Lorenz zu den Gräbern, er geht gern auf Friedhöfe und dann erhebt er seine Stimme. Trägt Fragmente vor und "Gedichte, die ich dalasse". Begonnen hat dieser Wunsch, etwas mitzugeben, dieser Drang, sich noch einmal zu verabschieden, vor etwa sieben Jahren. Da war der Autor noch Krankenpfleger in Freising, begleitete Patienten in der onkologischen Abteilung. "Durch die begrenzte Zeit schält sich das Leben raus." Solche Worte wählt Lorenz gern, der 15 Jahre lang Pfleger war und während seiner Ausbildung auch Einblicke in die Psychiatrie bekam. Er weiß: "Viele Schwerkranke haben ein knappes, ein klares Wunschspektrum." Einer seiner Krebspatienten habe es nicht mehr zu seiner Lesung geschafft, obwohl er unbedingt wollte, also hat er ihm eine Einzellesung am Grab geschenkt. So fing das an. Und es lässt ihn nicht los. Er las für die Sterbenden, die er kannte, und für die Unbekannten, für die las er auch. Und tut es noch immer.

Denn Geschichten helfen ihm selbst. Gegen die Traurigkeit, die er wie seine Figuren in sich trägt, aber auch als Kanal, das Erlebte zu verarbeiten. Die Zeit als Krankenpfleger prägt Lorenz, aber da ist noch mehr. Richard Lorenz wird 1972 geboren, "ein Arbeiterkind", wie er sagt. Auf dem Freisinger Land wächst er auf, umgeben von "merkwürdigen Gestalten". Psychisch Kranke, Selbstmörder, Alkoholiker. Das volle Programm. Seine Faszination für Außenseiter hat Gründe. Probleme mit dem Vater, Schulabbruch, Orientierungslosigkeit. Er, der früher strauchelte, sagt: "Figuren, die dadurch glänzen, anders zu sein, reizen mich." Die Geknickten hätten oft sehr versteckte interessante Geschichten. Diese Geschichten will Lorenz erzählen.

In diesen Tagen erscheint sein neuer Roman in der Edition Phantasia. "Frost, Erna Piaf und der Heilige" ist ein traumwandlerisches, autobiografisch gefärbtes Coming-of-Age-Stück über Sterben und Wiedergeburt, Sterbehilfe und Randexistenzen. Im Zentrum steht Frost, ein Landjunge in den Achtzigern, und sein merkwürdiges Verhältnis zum Tod. Ein Poet, der sich verliert und bei seiner Arbeit im Hospiz die Liebe findet, der Selbstmörder retten will und Schwerstkranke auch. Dieser Frost ist, wie schon Leibrand im Vorgängerroman "Amerika-Plakate" ein Abziehbild von Lorenz' persönlicher Erfahrung. "Die Grundidee war die Frage: Was möchte ich, wenn ich tot bin?" Seine poetische Reise ist irgendwo zwischen Himmelfahrt und Roadtrip zu verorten, zwischen Freising, München und Paris, zwischen Verzweiflung und Erlösung. Hin und wieder erklingt die Piaf, und es wirbeln die Schneeflocken, da spuken RAF-Gespenster und versammeln sich die Katzen. Die Stimmung ist merkwürdig, tendenziell düster, und doch dominiert die Empathie, und die bringt etwas Trost.

Richard Lorenz ist schon deshalb ein guter Autor, weil er einen eigenen Sound hat. Seine Poesie zieht auf wie Gewitterwolken, überwältigt das Normale, entlädt sich beim Lesen. Schöner Rhythmus, heftiger Sog. Und ja, ein bisschen bockig ist der Autor auch. Er will beim Geschichtenerfinden nicht plotten und sich an kein Exposé halten. Lieber lässt er sich treiben, sich von den Sehnsüchten der Figuren leiten. Das führt im besten Fall zu tief schürfender Prosa voller Fantasie und Überraschung, in weniger guten Momenten zu Wiederholungen und Realitätsverschiebungen.

Auch deshalb kämpft Lorenz, der auch als Journalist gearbeitet hat, seit vielen Jahren um Anerkennung und größere Verlagsprojekte. Sein Debüt "Amerika-Plakate" (2014) brachte ihm zwar viel Lob ein, unter anderen von Friedrich Ani, aber eben wenig Geld. Und Träume braucht auch Richard Lorenz. Der Autor, der bereits einen weiteren Roman, viele Ideen und ein Drehbuch in der Schublade hat, wünscht sich nur eins: vom Schreiben leben können. Zur Zeit geht das nur, weil er im Haus seiner Eltern in Nandlstadt lebt, zusammen mit seiner Frau und zwei Töchtern. Und noch etwas fände er wunderbar. Er steht auf dem Ostfriedhof, blickt auf die Gräber und sagt: "Mir würde es gefallen, wenn sich jemand an mich erinnert, mir Geschichten vorliest." Aus Toten Helden machen, darin ist Lorenz groß. Im Hier und Jetzt, wie schön.

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