Popgeschichte:Wer kann ich denn nun noch sein

Bowie On Stage

David Bowie im Wembley-Stadion auf seiner "Station to Station"-Tour, Mai 1976.

(Foto: Getty Images)

Eine Box verewigt David Bowies Werk aus den Jahren 1974 - 1976, als er sich neu erfand.

Von Torsten Groß

Kurz vor Ende dieses Popjahres fällt es immer noch schwer, nunmehr ausschließlich in der Vergangenheitsform über den im Januar verstorbenen Künstler David Bowie zu schreiben. Dabei hat die Nachlassverwaltung längst begonnen. Die Veröffentlichungsstrategie hatte Bowie angeblich noch zu Lebzeiten detailliert geplant. So erschien am 21. Oktober der Soundtrack zum Musical "Lazarus", der auch die letzten drei Bowie-Songs überhaupt enthält. Hinzu kommen diverse Wiederveröffentlichungen, neue Bücher, eine Jubiläumsedition des Films "Der Mann, der vom Himmel fiel". Auch der zweite Teil einer Werkausgabe liegt inzwischen vor, welche David Bowies künstlerisches Schaffen mit Endgültigkeitsanspruch aufbereitet: "Who Can I Be Now? 1974 - 1976" (Parlophone / Warner) widmet sich des Künstlers amerikanischer Phase.

Die mittleren Siebzigerjahre waren für Bowie eine Zeit des Umbruchs. Er nahm zu viel Kokain, um Stringenz walten zu lassen. Bowie verließ London, seine Ehe lief nicht gut, er trennte sich von seinem langjährigen Manager Tony Defries, der ihn an den Rand der Pleite geführt hatte, bis auf den Pianisten Mike Garson und den Produzenten und Bassisten Tony Visconti ließ er die prägenden Musiker der ersten Jahre hinter sich. Er ging nach New York, arbeitete unter anderem an einer Theateradaption von Orwells "1984", wollte alles gleichzeitig machen, nur nicht noch mehr von dem, was er bereits gemacht hatte. Dem Schatten seines Glamour-Alter-Egos Ziggy Stardust zu entkommen, war für Bowie zu einer Frage von existenzieller Dringlichkeit geworden, der er alles unterordnete.

Den Kern der Box bilden die Studioalben: "Diamond Dogs" trägt den Rock 'n' Roll der Ziggy-Jahre noch in sich, hat aber bereits deutlich amerikanische Züge. Die aus heutiger Sicht in Teilen verquasten Texte waren dem Sujet geschuldet: Bowie verarbeitete auf "Diamond Dogs" die bereits für "1984" geschriebene Musik, nachdem die Orwell-Erben seine geplante Inszenierung untersagt hatten. Das ambivalente Interimsalbum wurde damals überwiegend verrissen. Es erweist sich aber als gut gealtert. Hinzu kommen "Young Americans" und "Station To Station", alle Alben liegen in Replikaten mit den Original-Artworks vor.

Allerdings sind dies nur drei von insgesamt neun diese Box konstituierenden Alben. Und hier wird es dann doch ein bisschen redundant: Zunächst wurde die komplette Deluxe-Edition der 2010 erschienenen "Station To Station"-Neuauflage samt sämtlicher Beigaben kurzerhand eingemeindet. Hinzu kommen gleich zwei Versionen von "David Live" und eine sogenannte Raritätensammlung mit den verschiedenen Single-Varianten jener Jahre. Als großer Scoop gilt ein sogenanntes verschollenes Album, "The Gouster". In keiner Biografie, in keinem Interview hat Bowie jemals ein solches Album erwähnt. Kein Wunder, handelt es sich doch tatsächlich um eine - für Bowie-Exegeten freilich hochinteressante - Vorstufe von "Young Americans". Begeistert vom sogenannten Phillysound hatte Bowie sich mit einer Gruppe hochklassiger Musiker in den Stigma-Studios zu Philadelphia verschanzt. Neben Carlos Alomar, der in den folgenden Jahren zu einer prägenden Figur im Bowie-Universum werden sollte, trug ein damals noch unbekannter Sänger mit dem Namen Luther Vandross zum Gelingen bei. Visconti erinnert sich in den Linernotes dieser Box an eine fiebrige Atmosphäre, in deren Verlauf er die gesamte Band inklusive Gesang komplett live aufnahm.

Vielleicht hätte Bowie die Aufnahmen in diesem Zustand belassen, wenn er nicht John Lennon getroffen hätte. Gemeinsam mit ihm schrieb er "Fame" und nahm überflüssigerweise den Beatles-Klassiker "Across The Universe" auf. Jener Kooperation fielen die nun auf "The Gouster" enthaltenen "Who Can I Be Know?" und "It's Gonna Be Me" zum Opfer - sowie eine funkinfizierte Soul-Version von "John, I'm Only Dancing". Hört man die beiden Versionen gegeneinander, wird klar, was Bowie bewog, die rauen Stigma-Aufnahmen einer Politur zu unterziehen und das Album um "Fame" zu ergänzen: Mit "Young Americans" eroberte er ein junges, amerikanisches Disco-Publikum. Vor allem aufgrund der immensen Popularität des Nummer-eins-Hits "Fame" bedeutete die Hinwendung zum Blue Eyed Soul für den Engländer den endgültigen Durchbruch auf dem wichtigsten Musikmarkt der Welt. Das Album ist interessant als Dokument einer noch nicht abgeschlossenen Suche nach einer künstlerischen Neudefinition.

Der Bowie der mittleren Siebzigerjahre wurde oft als gewissenloser Karrierist und Egomane beschrieben, der hemmungslos die Kreativität anderer Leute plündere. Tatsächlich war er damals wohl vor allem ein Mensch, der praktisch alles, also auch seine Gesundheit, der Kunst unterordnete - und wusste, welche Musiker zu welchem Projekt passten. Mit dem "Ziggy Stardust"-Gitarristen Mick Ronson hätte er den Soul von "Young Americans" jedenfalls nicht umsetzen können. Und so war das Album letztlich ein Sieg des Pragmatismus über freundschaftliche Loyalitäten.

Der Box liegt wieder ein umfangreicher Bildband bei, der neben Credits, Linernotes, Notizzetteln, Fotografien und Presseartikeln das Rolling Stone-Gespräch enthält, welches Bowie 1974 mit William S. Burroughs führte. Dessen Cut-up-Technik faszinierte Bowie so sehr, dass er in den Folgejahren einige seiner Texte nach dieser Methode geschrieben haben will, was man sich nur in Teilen vorstellen kann, da die lineare Grundstruktur der meisten Bowie-Stücke dem Cut-up-Prinzip diametral entgegensteht. Es war die Zeit, in der Bowie zunehmend die Kontrolle über sein Leben entglitt. In der BBC-Dokumentation "Cracked Actor" demonstriert er mit wirrem Blick Burroughs' Cut-up-Methode, indem er im Kokswahn Textblätter zerreißt und willkürlich neu zusammensetzt. Im Frühjahr 1975 war er von New York nach Los Angeles übergesiedelt. Um den durch das Kokain bedingten Kalziumverlust zu kompensieren, führte der auf 40 Kilogramm abgemagerte Bowie stets einen mit Milch gefüllten Flachmann mit sich. Seine Zähne waren trotzdem bald völlig ruiniert. Und wieder gelang ihm Erstaunliches: Im Herbst 1975 ging er in die Cherokee Studios in Hollywood, wo er dem ganzen Irrsinn einige der besten Songs seiner Karriere entriss. "Station to Station" war die Hollywood-Noir-Variante von "Young Americans". Obschon das Album nur acht Songs enthält, gehört es bis heute zu seinen herausragenden Arbeiten. Für viele ist es gar Bowies bestes Album überhaupt.

All das liegt nun in einem edel gestalteten Pappschuber abermals vor, besonders die Vinyl-Edition ist liebevoll aufgemacht. Da Bowies Karriere seit den Achtzigerjahren sämtliche Verwertungsmechanismen und Formatgenerationen immer wieder durchlaufen hat, findet sich hier allerdings nichts, was es nicht bereits gibt.

Als die Tournee zu "Station to Station" Los Angeles verließ, tat das auch Bowie selbst. Er kaufte ein Haus in Zürich und mietete eine Wohnung in Berlin. Es begann eine neue Phase, die in ihrem interdisziplinären Kunstwillen alles Vorangegangene in den Schatten stellte. Ohne das Drama der amerikanischen Jahre wäre sie undenkbar gewesen.

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