US-Intellektueller Ta-Nehisi Coates:"In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Körper zu zerstören"

Ta-Nehisi Coates

Präsident Barack Obama raunte Ta-Nehisi Coates im Weißen Haus zu: "Verzweifle nicht!"

(Foto: Anna Webber/AFP)

Ta-Nehisi Coates gilt als Amerikas Vorzeige-Intellektueller. Er schreibt über die Ohnmacht, die jeder schwarze Teenager kennt. Und erklärt Weißen, dass Polizisten nicht immer freundlich sind.

Von Matthias Kolb, Washington

Seit seinem Buch "Zwischen mir und der Welt" gilt der Publizist Ta-Nehisi Coates als Amerikas Vorzeige-Intellektueller. Wer die Bewegung "Black Lives Matter" verstehen oder auch einfach nur nicht am täglichen Irrsinn der politischen Auseinandersetzung verzweifeln will, der muss seine Texte lesen. Das schafft Erwartungsdruck. "Um ehrlich zu sein: Ich ringe noch mit der neuen Rolle", sagt er bei einem seiner jüngsten Auftritte in Washington. "Ich habe immer Artikel geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, dass dieses Thema gerade wichtig ist. Aber es ist mir unangenehm, wenn die Menschen Antworten von mir erwarten."

Im Festsaal der alten Synagoge an der Kreuzung von Sixth und I Street sitzen 800 Frauen und Männer, schwarz und weiß, jung und alt. Sie blicken hinauf zu dem schlanken Glatzkopf im weißen Hemd und dunkelblauen Anzug und hoffen auf: Selbstbestätigung, Orientierung, Ordnung. Die Veranstaltung war in zehn Minuten ausverkauft, nun wird sie auf Facebook live übertragen.

Fast alle Besucher haben sein Buch dabei, seit 63 Wochen auf der Bestseller-Liste, und der Grund für Coates' Ruf als "public intellectual". In "Zwischen mir und der Welt" (Hanser-Verlag) schreibt er seinem Sohn einen Brief und bereitet ihn auf die Zukunft vor. Seine Kernbotschaft lautet: "In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Körper zu zerstören."

In diesem Jahr reiht sich eine deprimierende Nachricht an die andere

Nobelpreisträgerin Toni Morrison erklärte das Buch zur "Pflichtlektüre", Präsident Barack Obama raunte ihm im Weißen Haus zu: "Verzweifle nicht!" Doch Ta-Nehisi Coates fällt die Rolle des Chef-Erklärers auch aus anderen Gründen zu. Der 41-Jährige wuchs in Baltimore als Sohn eines "Black Panther"-Aktivisten auf und schreibt seit Jahren für das Magazin The Atlantic über all jene Themen, denen die amerikanische Gesellschaft nicht mehr ausweichen kann. Es sind Texte, deren analytische Tiefe sich oft erst bei der zweiten Lektüre offenbart und die eine erstaunliche politische Haltbarkeit besitzen.

Konservative Amerikaner verweisen derzeit beispielsweise gern darauf, dass die Mordrate in "Obamas Heimatstadt" Chicago steigt und steigt und sich vor allem junge schwarze Männer gegenseitig umbringen. Wer Coates' Text über Chicagos Polizei aus dem Jahr 2013 kennt, den macht diese Häme wütend.

In diesem Jahr reiht sich eine deprimierende Nachricht an die andere. Noch immer sind es die Schwarzen, die in Städten wie Flint bleihaltiges Wasser trinken müssen; immer wieder zeigen Handy-Videos, wie schwarze Männer durch Polizeikugeln getötet werden. Zugleich ist das Land zerrissener denn je.

Aufgehetzt von Sendern wie Fox News glaubt die Mehrheit der Amerikaner an einen "Krieg gegen die Cops". Fans des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump rufen stolz "Blue Lives Matter", eine Anspielung auf die dunkelblauen Uniformen. Trumps Versuch, schwarze Stimmen zu gewinnen, klingt übrigens so: "Ihr lebt in der Hölle. Was habt ihr zu verlieren, wenn ihr mich wählt?"

Was also sagt Trumps Erfolg über die USA aus? An dieser Frage kommt Coates in Washington nicht vorbei, aber seine Antwort fällt knapp aus: "Ich habe zwei Texte über den Kandidaten Trump geschrieben, und mir fällt kaum mehr etwas ein." Als Hillary Clinton die Hälfte der Trump-Fans als "kläglich" und "nicht zu retten" bezeichnet hatte, war die Aufregung groß, amerikanische Medien sprachen von einem schlimmen Fehler. Coates sieht das anders: Clinton habe nur Fakten ausgesprochen und verdiene Respekt, weil sie die weiße Scheinheiligkeit bloßgestellt habe. Coates verachtet den pseudo-objektiven Polit-Journalismus, der nur Sieger und Verlierer kennt: "Durch die Berichterstattung geben wir einem Prozess Würde, der in diesem Jahr würdelos ist."

Ta-Nehisi Coates, das zeigt vor allem die Fragerunde, ist einer der wenigen amerikanischen Intellektuellen, dem alle vertrauen. In der schwarzen Community gilt sein Buch als eine Art Manifest. Es beschreibt die Ohnmacht und die Wut, die alle kennen, die jeder Teenager versteht. Zugleich ist er nun für Hunderttausende weiße Leser eine Autorität. Seine Texte führen ihnen vor Augen, dass sich Polizisten auch ganz anders und viel unberechenbarer verhalten können als in ihren ruhigen Vororten. Er ist auch für sie eine moralische Autorität.

Exemplarisch steht dafür die Frage eines jungen Mannes aus Texas, der gerne wissen möchte, wie er mit Verwandten umgehen solle, die Donald Trump wählen wollen. Coates seufzt, so etwas kann er gar nicht leiden. "Ich kann dir das nicht sagen, ich bin Schriftsteller und weder Aktivist noch Sozialarbeiter. Eines weiß ich aber: Die Leute entscheiden sich bewusst dafür, sich nicht zu informieren. Trump-Fans sind Rassisten, weil es für sie vorteilhaft ist. Wenn du nicht wie Eric Garner von der Polizei erwürgt wirst oder wie Trayvon Martin erschossen wirst, weil du weiß bist, dann hast du mehr Macht."

Coates fordert Reparationen für Schwarze

Solche klaren Worte sind typisch für Coates. Schon vor zwei Jahren forderte er, dass die Schwarzen Reparationen erhalten müssten, nicht nur als Entschädigung für das Unrecht, das ihnen während der Sklaverei angetan wurde, sondern auch, weil Afroamerikaner wegen struktureller Diskriminierung - "redlining" heißt das Stichwort - keine Immobilien kaufen und deshalb auch keinen Wohlstand aufbauen durften. Die Fakten seien eindeutig, argumentierte er, durch historische Studien und Gerichtsurteile belegt.

Die bösartigen Reaktionen auf seinen damaligen Essay waren ein Vorgeschmack auf den jetzigen Wahlkampf, schon damals ahnte man, wie sehr viele weiße Amerikaner den Verlust ihrer Privilegien fürchten, wie hartnäckig sie sie verteidigen würden.

Coates kann nicht ohne Angst um seine Familie leben

Es sagt viel über den derzeitigen Zustand Amerikas aus, dass Coates wegen solcher Positionen nicht ohne Angst um seine Familie leben kann. Als im Sommer die Adresse jenes Hauses bekannt wurde, das er für zwei Millionen Dollar in Brooklyn gekauft hatte, zog er dort nicht ein. "In diesem Land kannst du kein schwarzer Autor sein, der bestimmte Positionen vertritt und nicht an die eigene Sicherheit denkt", schrieb er in einem Blog-Beitrag für den Atlantic.

Damals bereitete er seine Rückkehr in die USA vor, denn das turbulente Jahr nach Erscheinen von "Zwischen der Welt und mir" verbrachte er mit Frau und Sohn in Paris. Die Ereignisse in Amerika hat er natürlich dennoch verfolgt, und besonders beeindruckt hat ihn die "Black Lives Matter"-Bewegung: "Ihr Erfolg ist unglaublich und wird von allen unterschätzt."

Dass die Aktivisten der Bewegung auf traditionelle Organisationsstrukturen und Anführer verzichten, hält er für sehr klug: "So haben sie es geschafft, dass niemand dem Rassismus-Thema ausweichen kann." Als er in den Neunzigerjahren in Baltimore aufwuchs, wagte es kein schwarzer Sportler, politische Positionen zu vertreten. "Republikaner kaufen auch Turnschuhe", lautete ein Kommentar des NBA-Stars Michael Jordan.

"Es ist normal, dass schwarze Journalisten die Nachrichten moderieren"

Heute sei dies anders, sagt der Sportfanatiker Coates und erinnert daran, dass der Football-Star Colin Kaepernick während der Nationalhymne aus Protest nicht aufstand, sondern auf die Knie ging. Oh nein, habe er, Coates, gedacht: "Aber dass Kaepernick nun Millionen Leute unterstützen, liegt daran, dass die Aktivisten nie aufgegeben haben."

Seit seiner Zeit in Frankreich blickt Coates "ungeheuer optimistisch" in die Zukunft. "Ich dachte immer, wir bekämen nichts hin, bis ich merkte, wie bewundernd schwarze Franzosen auf die Vereinigten Staaten schauen. Wir haben Bürgerrechtsorganisationen, unsere eigenen Universitäten, und es ist normal, dass schwarze Journalisten die Nachrichten moderieren", sagt Coates.

Paris habe er erkundet "wie in der Prä-Google-Ära" und sich erlaubt, alle Fragen zu stellen. Dies ist sein Ansatz als Journalist: Hinausgehen, subjektiv sein und den Leser am Lern- und Denkprozess teilhaben lassen.

Exemplarisch ist sein Text in der Oktober-Ausgabe des Atlantic mit dem Titel "Was mir O. J. Simpson bedeutet". Darin beschreibt er, wieso der Sieben-Stunden-Film "O. J. Simpson Made in America" von Ezra Edelman eine hervorragende Parabel für Amerikas Rassismusproblem sei. Als Student an der Howard University habe ihn der Fall des schwarzen Football-Stars, der 1994 wegen des Mordes an seiner weißen Frau angeklagt war, kaum interessiert - und er hatte auch nicht verstanden, dass so viele Schwarze solidarisch mit Simpson waren.

Edelmans Film zeigt, dass die Weißen den eleganten Runningback liebten, weil Simpson kein wütender Schwarzer war und er ihnen ein gutes Gefühl der Toleranz gab. Und er dokumentiert, dass die Polizei in Los Angeles Jahrzehnte vor der Prügel-Attacke auf Rodney King äußerst brutal vorging. Diese Wut auf die Polizei in Los Angeles nutzten Simpsons Anwälte, um die schwarze Mehrheit in der Jury zu überzeugen (mehr dazu hier beim Atlantic).

Coates' Neugierde und sein Wissensdurst sind viel größer sind als sein Wunsch, im Rampenlicht zu stehen

Wie begeistert Ta-Nehisi Coates von dem Epos ist, zeigt sich kurz nach seinem Auftritt in der Synagoge. Gemeinsam mit Regisseur Edelman sitzt er auf der Bühne des Washington Ideas Forum des Atlantic im Harman Center. Es ist eine jener Konferenzen, auf denen tagelang das Hohelied von Bildung, Innovation und Big Data gesungen wird. Außenminister John Kerry ist zu Gast, und Coates ist wie ausgewechselt, denn nun kann er selbst die Fragen stellen. Als Zuschauer den Saal verlassen wollen, ruft er lachend: "Warum steht ihr auf? Bleibt hier, sonst verpasst ihr das beste Interview des Tages!"

In diesen Momenten wird klar, dass Ta-Nehisi Coates' Neugierde und sein Wissensdurst viel größer sind als sein Wunsch, im Rampenlicht zu stehen. In der Synagoge hat er gesagt: "Ich habe Angst davor, mich zu wiederholen und nur noch Mist zu erzählen." Wenn Coates weiterhin solche Texte schreibt, verzeiht man ihm sogar, dass er erst einmal Interviews mit ausländischen Medien ablehnt.

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