Dokumentation:Schuss und Gegenschuss

Lesezeit: 2 min

Was man sieht, wenn ein Flüchtling selbst zur Kamera greift und mit Freunden zum Sturm auf die Exklave Melilla ansetzt : "Les sauteurs", gefilmt von Abou B. Sidibé.

Von Martina Knoben

Am Anfang stehen die Bilder einer Überwachungskamera, ein Fadenkreuz vor einer grauen Schattenlandschaft, in der pulsierende helle Punkte wimmeln. Es ist eine Ästhetik der Kontrolle und der Ausgrenzung, wie sie in Dokumentarfilmen von Harun Farocki bis Nikolaus Geyrhalter immer wieder beschrieben wurde: ein Sehen, ohne selbst gesehen zu werden; ein Blick, der die Beobachteten auf Pixel reduziert.

In "Les sauteurs" gibt es nun einen Schnitt - in eine andere Welt, zu einer anderen Ästhetik. Statt der Leuchtpunkte sind jetzt Männer mit Fackeln und angespannten Gesichtern zu sehen, die sich zwischen Kakteen ihren Weg bahnen, über Felsen klettern, sich in Höhlen und zwischen Sträuchern verstecken. Es sind Flüchtlinge auf dem Weg zu dem Grenzzaun, der die spanische Exklave Melilla an der nordafrikanischen Küste vom Rest des Kontinents abtrennt. Von den Dramen, die sich dort abspielen, wurde immer wieder berichtet. "Les sauteurs" ist dennoch ein einzigartiges Dokument - weil der Regisseur und Kameramann selbst ein Flüchtling ist.

Abou Bakar Sidibé wurde in Mali geboren und lebte 14 Monate in einem provisorischen Camp auf dem Berg Gurugu in Sichtweite der Grenzanlagen bei Melilla, als ihm die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner eine Kamera in die Hand drückten. Und Sidibé filmte: Wie die Männer im Lager Nahrung und Wasser besorgen, wie sie feiern, beten oder Fußball spielen, wie gekocht und mit Waren gehandelt wird. Das Camp erweist sich als wohlorganisiertes Gemeinwesen. Und die Männer, die dort dem Sprung nach Europa entgegenfiebern, leben zwar in ständiger Angst vor der Polizei, aber wirken unglaublich vital. Alt und müde wirkt Europa dagegen.

Auf der Flucht nach Europa - Szene aus "Les sauteurs". (Foto: Arsenal Institut)

Seit den Siebzigerjahren und dem Aufkommen der Videotechnik haben Dokumentarfilmer immer wieder "Betroffenen" die Kamera gegeben und sie zu (Co-)Autoren ihrer Lebenserzählungen erklärt. Hier funktioniert das Prinzip besonders gut: Weil es die Bilder von Migration, die Sidibé macht, tatsächlich noch nicht gegeben hat, und weil der Malier ein begabter Erzähler ist. Es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen, wie er filmend die Möglichkeiten des Mediums entdeckt: etwa ein Interview führt, Szenen mit Musik aus einem Handy untermalt und auch einen Blick für die Schönheit von Bildern entwickelt.

Wenn die Flüchtlinge dann wieder einmal zum Sturm auf das Grenzgitter ansetzen, hat auch Sidibé keine Hand mehr für die Kamera frei, und erneut wechselt die Perspektive. Da werden er und seine Freunde wieder zu bedrohlichen Pixelgestalten: was für ein Irrtum. Und was für ein Verlust.

Les sauteurs , DK 2016 - Regie: Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou B. Sidibé . Arsenal, 79 Min.

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© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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