Türkische Chronik (XIV):Die Kurden verlieren ihre Heimat

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Zerstörte Gebäude in der Stadt Sirnak, im Südosten der Türkei. Hier kam es zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Spezialeinheiten und der militanten PKK-Anhängern. (Foto: dpa)

Viele Orte sind völlig vernichtet, Menschen verlassen ihre Heimatstädte. Die Folgen davon werden wir alle zu spüren bekommen.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Ich fühle mich wie die Stadt Diyarbakır: trostlos, wütend und verärgert - aber noch stehen wir beide." So äußert sich eine Berichterstatterin aus der südöstlichen Ecke der Türkei, die moralisch wie physisch ramponiert ist. Ich werde es erklären.

Wir leben in einer Zeit, in der ein wichtiger europäischer Politiker wie Frank-Walter Steinmeier schon als "privilegiert" (!) gilt, wenn er seine türkischen Kollegen treffen darf. Steinmeiers jüngster Türkei-Besuch zeigt, wie groß der Graben zwischen Ankara und der EU mittlerweile ist. Nichts, so scheint es, funktioniert mehr, wie sehr man sich auch bemüht, wieder den Verstand walten zu lassen.

Kati Piri, die Türkei-Beauftragte des Europaparlaments, ist nicht so "privilegiert" wie Steinmeier. Sie steht neuerdings auf der schwarzen Liste, ist zur Persona non grata geworden, die nicht mehr bei der Regierung vorstellig werden darf. Ihr Vergehen? Laut Bekir Bozdağ, dem türkischen Justizminister, betreibt sie eine Berichterstattung, "wie sie den Terrororganisationen gefällt". Der für Mittwoch vorgesehene Besuch einer EU-Delegation in Ankara wurde aus diesem Grund verschoben.

Für die türkische Regierung sehen alle oppositionellen Aktivitäten nach "Verbrechen" aus

Parlamentspräsident Martin Schulz ließ daraufhin verlauten, es sei nicht akzeptabel, einzelne Mitglieder einer Delegation auszuschließen. Außerdem: Was hätte Piri schon gemacht? Wahrscheinlich das, was sie immer gemacht hat: Sie hätte nicht nur türkische Minister, sondern auch Repräsentanten der gewählten Parteien, der Opposition, Juristen, kritische Journalisten und Nichtregierungsorganisationen aufgesucht. Kurzum, sie hätte zu Inhaftierungen, Verstößen gegen Freiheitsrechte, Verletzungen von Eigentumsrechten und Ähnlichem recherchiert. Das ist schließlich ihr Job. Da aber in den Augen der türkischen Regierung momentan sowieso alle oppositionellen Aktivitäten nach "Verbrechen" aussehen, hielt man es wohl für besser, Piri vorsorglich auszuladen.

Die mutigen örtlichen Berichterstatter in der Türkei lassen sich von solchen Schikanen nicht stoppen. Sie bemühen sich weiterhin, die Realität in ihrem Land auszuleuchten. Nurcan Baysal zum Beispiel lebt in Diyarbakır und weigert sich, die Stadt zu verlassen, auch wenn die Zustände dort immer schlimmer werden. Gerade hat die Organisation Freedom House die Türkei auf ihrem "Global Internet Freedom Index" von "zum Teil frei" auf "nicht frei" heruntergestuft, sodass das Land nun auf einer Stufe mit Iran, Weißrussland, dem Sudan und Saudi-Arabien steht. Trotzdem schickt Baysal weiter nahezu täglich Artikel aus Diyarbakır, in denen sie das Alltagsleben und die Gefühle der Kurden vor Ort beschreibt.

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"Meine Freunde aus dem Westen des Landes wollen oft wissen, wie ich mich fühle", schreibt sie in ihrem letzten Beitrag für die Nachrichtenseite T 24. "Ich fühle mich wie die Stadt Diyarbakır: trostlos, wütend und verärgert - aber noch stehen wir beide." Dann nimmt sie uns mit auf einen Spaziergang durch die Straßen der Stadt, an die öffentlichen Orte, zu den einfachen Leuten. Der Eigentümer ihres Lieblingscafés erzählt ihr, dass die Gäste ausbleiben, seit Selahattin Demirtaş, der beliebte Anführer der prokurdischen HDP, zusammen mit zehn Parlamentsmitgliedern verhaftet wurde. "Nichts ist mehr wie früher, jeder macht sich Sorgen", sagt er. Und Baysal selbst bestätigt dieses Leid in der Stadt: "Es ist nicht einfach zu überleben, zu hoffen, weiterzumachen." Die Einwohner hätten sich derart eingesetzt für den Frieden, dass der nun eingetretene Zustand sie besonders enttäusche. "Unsere Medien sind verschwunden. Nichtregierungsorganisation sind verschwunden. Wir haben keine eigenen Stadtbezirke, keine gewählten Abgeordneten mehr. Wie unsere Repräsentanten behandelt werden, ist schrecklich."

In der Region kommt es zu zahlreichen Festnahmen, gestern etwa in den HDP-Hochburgen Mardin, Van und Siirt. Die Bürgermeister von Siirt und Van wurden schon vorher abgeführt. In Mardin hat der Gouverneur die Geschäfte des Bürgermeisters Ahmet Türk übernommen. Wenn irgendein Ereignis die frappierende Situation verdeutlich kann, dann wohl diese Amtsenthebung Türks. Der 74 Jahre alte, freundliche Politiker, der noch von dem früheren Ministerpräsidenten Turgut Özal damit betraut wurde, dem kurdischen Frieden eine Brücke zu bauen, muss im hohen Alter erleben, wie seine Bemühungen um ein Ende der ethnischen Fehde in der Türkei zunichtegemacht werden.

In der hauptsächlich kurdisch-alevitischen Provinz Tunceli/Dersim wurden gerade die beiden Ko-Bürgermeister inhaftiert. Der stellvertretende Gouverneur hat ihre Position übernommen. Einer anderen HDP-Vertreterin aus Diyarbakır drohen derweil elf bis 28 Jahre Haft, weil sie geäußert hat, dass die Kräfte der Staatssicherheit die historischen Stätten der Altstadt zerstörten. Außerdem werden ihr die fast schon obligatorische "Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation" vorgeworfen, "die unbewaffnete Teilnahme an illegalen Demonstrationen und die Weigerung, sie trotz Verwarnungen zu verlassen".

Kurdische Mütter und Großmütter warten kettenrauchend auf ihre Söhne und Enkel

Während ich Baysals Artikel las, musste ich an meinen letzten Besuch des Bezirks Sur in Diyarbakır denken. Im vergangenen Frühling habe ich mit einer Gruppe von Journalisten unter Aufsicht der Sicherheitskräfte die Gegend besichtigt. An einer Stelle wurden wir plötzlich aufgehalten. Wie dichter Nebel hingen Angst und Sorge über der Szenerie: Kurdische Mütter und Großmütter saßen kettenrauchend beisammen und warteten auf Nachricht, wer von ihren Söhnen und Enkeln es lebend nach Hause schaffen würde.

Von Sur ist jetzt kaum noch etwas übrig. Und das ist noch viel im Vergleich zu den Überresten der Nachbarstadt Şırnak, wo nach dem Ende einer achtmonatigen Ausgangssperre vor drei Tagen eine völlig ausgelöschte Siedlung sichtbar wurde. "Es geht nach Hause, nur dass es kein Zuhause mehr gibt", war die so schmerzhafte wie treffende Schlagzeile der Tageszeitung Cumhuriyet. Den offiziellen Zahlen zufolge sind mindestens 2000 Gebäude zerstört. Menschenrechtsorganisation schätzen, dass 70 000 bis 90 000 Menschen die Stadt wegen der Kämpfe und Einsätze verlassen haben - das sind 80 bis 90 Prozent aller Einwohner. Bald wird uns alle diese Realität einholen.

"Viele fragen mich zurzeit: Wenn ein Kandidat der Präsidentschaftswahlen von 2014 heute unter Arrest gestellt ist, wie soll ich als ausländischer Investor mich jemals sicher fühlen?", erzählte Cenk Sidar, ein junger Wirtschaftsstratege aus Washington, D. C., neulich in einem Interview. Deutlich sind die Signale der wachsenden ökonomischen Krise in der Türkei. Der von Sidar erwähnte Kandidat ist übrigens Selahattin Demirtaş. Er sitzt in Isolationshaft.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P24. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Jonathan Horstmann.

© SZ vom 18.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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