Türkei:Überall Probleme

Die türkische Zentralbank erhöht die Zinsen, doch es hilft nichts: Die Währung fällt, Investoren suchen das Weite.

Es sollte eine Rettungsaktion für die türkische Lira sein. Seit Wochen befindet sich die Währung im freien Fall. Am Donnerstagmorgen bekam man für einen Euro etwa 3,60 Lira - so viel wie noch nie. Am frühen Nachmittag hob Notenbankchef Murat Çetinkaya den Leitzins um 0,5 Prozentpunkte auf acht Prozent an. Geholfen hat es nichts. Zwar legte der Kurs der Lira kurzzeitig zu. Doch der Effekt war schnell verpufft, als das EU-Parlament beschloss, die Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren.

Auch wenn das Votum keine bindende Wirkung hat, ist das für ein Land, das 50 Prozent seines Handels mit Ländern der Europäischen Union betreibt, eine Schreckensnachricht. Am Freitag bewegte sich der Kurs zwischenzeitlich auf 3,67 Lira zu. Wer weiß, wie weit die Währung abgeschmiert wäre, wenn die Zentralbank den Zinssatz nicht erhöht hätte.

Mutig war die Aktion in jedem Fall. Denn kein geringerer als Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Bank seit mehr als einem Jahr bedrängt, das genaue Gegenteil zu tun: nämlich die Zinsen zu senken, um über billigere Kredite den privaten Konsum anzukurbeln. Die Zentralbank sei unabhängig, erklärte Erdoğan noch vor wenigen Tagen, seine Kritik dürfe er aber sehr wohl vortragen. Er sei schließlich derjenige, der vom Volk die "Ohrfeige bekomme", wenn die Wirtschaft nicht läuft.

Erdoğan weiß, dass die Wirtschaft das Rückgrat seiner Herrschaft ist. Der Aufstieg seiner islamisch-konservativen AKP-Partei hängt eng mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zusammen. An der Skyline von Istanbul, den neuen Hochhäusern, am zweiten Finanzmarktzentrum, das gerade gebaut wird, lässt sich der Ehrgeiz seiner Regierung ablesen. In guten Jahren lag das Wachstum bei fast zehn Prozent. Der Westen schaute begeistert zu, wie sich die türkische Wirtschaft emporarbeitete. Es zahlte sich aus, dass Erdoğan Reformen durchzog - und sich damals auch noch der EU zuwendete.

Turkish Lira Continues To Fall As EU Suspends Turkey's Membership Talks

Eine Nebenstraße der berühmten Istanbuler Einkaufsstraße Istikal. Ein Geschäft nach dem anderen muss schließen.

(Foto: Chris McGrath/Getty Images)

Heute ist die Türkei ein anderes Land. An dem Tag, als die Zentralbank den Leitzins erhöhte, kam fast alles zusammen, was das Land bedrückt. Die Zeitung Habertürk druckte eine Karikatur, die einen schlaflosen Türken zeigte. Er versucht es mit Schäfchenzählen. Aber jedes Schaf kommt wie eine schlechte Nachricht daher: Die schwache Lira, die eingefrorenen Beitrittsgespräche, ein Terroranschlag in der anatolischen Stadt Adana, getötete türkische Soldaten im Syrieneinsatz. Der Ausnahmezustand als Dauerzustand.

Die schwache Lira ist nicht nur ein hausgemachtes Problem. Seit der Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten hat die türkische Währung zum Dollar acht Prozent an Wert verloren. Die Erwartung steigender Zinsen in den USA lässt Anleger aus vielen Schwellenländern Geld abziehen. Aber die Schwierigkeiten fingen schon vor Trump an - und auch schon vor dem Putschversuch im Juli. Oppositionspolitiker und Regierungskritiker sitzen in Haft, Zehntausende haben ihren Job verloren und sehen sich mit Terror-Ermittlungen konfrontiert. Die Unsicherheit im Land schreckt Investoren ab.

Die Strände sind leer, auf der Einkaufsmeile Istanbuls schließen viele Geschäfte

Zum Stand Juni, also vor dem Putsch, waren die Auslandsinvestitionen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um die Hälfte eingebrochen. Schwer trifft die Wirtschaft vor allem, dass Touristen wegbleiben. So leer wie in diesem Jahr waren die Strände von Antalya seit Langem nicht. In der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal muss ein Geschäft nach dem anderen schließen. Das schlägt sich auch in Zahlen nieder. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die Wirtschaft in der Türkei in diesem Jahr um 2,9 Prozent wachsen wird - deutlich weniger als im Jahr zuvor.

Türkei: SZ-Grafik; Quelle: Bloomberg

SZ-Grafik; Quelle: Bloomberg

Unter Erdoğans Regie flossen hohe Summen in Bauprojekte. Doch diese Investitionen bewirkten kein nachhaltiges Wachstum, sagt André Wolf vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. Nur weil ein Wolkenkratzer fertig ist, entstehen nicht automatisch Jobs und Wertschöpfung. "Die Türkei hat es noch nicht geschafft, von der verlängerten Werkbank Europas zum Technologiestandort zu werden", sagt Johannes Leitner, Leiter des Kompetenzteams Schwarzmeerregion in Wien. Der Anteil der Hochtechnologie an der Wirtschaftsleistung liegt gerade mal bei vier Prozent. Und so hängt die Türkei immer noch stark von europäischen Unternehmen ab, die dort zu vergleichsweise günstigen Preisen ihre Produkte fertigen lassen. Sollte ihnen die politische Lage im Land zu heiß werden, fällt mit der Türkei eine wichtige Basis weg.

Doch bisher sieht es nicht danach aus, als hätte die Krise das Potenzial, Erdoğan gefährlich zu werden. Die Exporte gingen bis August nur um zwei Prozent zurück, die Arbeitslosenquote hält sich einigermaßen stabil bei zehn Prozent, was auf extrem flexible Arbeitskräfte zurückzuführen ist. Anfang des Jahres hat die Regierung den Mindestlohn um 30 Prozent angehoben.

Das türkische Wachstum wird zu 65 Prozent vom privaten Konsum getragen - wenn auch auf Pump. Die Gesellschaft ist vergleichsweise jung, die demografische Entwicklung begünstigt die Lage. An der Nachfrage dürfte sich Experten zufolge so schnell nichts ändern. Und die Regierung hat Spielräume. Die Gesamtverschuldung am Bruttoinlandsprodukt liegt bei unter 33 Prozent. "Der türkische Staat hat die Möglichkeit, die Wirtschaft durch ein Konjunkturprogramm zu unterstützen und macht davon auch Gebrauch", sagt Jan Nöther von der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul. Die etwa 6500 deutschen Unternehmen in der Türkei schauten sehr zufrieden auf das Geschäftsjahr 2016.

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