Literaturnobelpreis für Bob Dylan:Der Mann, der niemals da war

Benicassim International Music Festival  - Bob Dylan

Bob Dylan war immer einen Schritt weiter, als seine Anhänger es von ihm erwarteten.

(Foto: picture alliance / dpa)

Bob Dylan kommt nicht zur Literaturnobelpreis-Verleihung? Sein Fernbleiben ist kein Affront, sondern die Krönung seines künstlerischen Schaffens.

Kommentar von Julian Dörr

In Stockholm soll Bob Dylan der Nobelpreis für Literatur verliehen werden. Doch der Gewinner kommt nicht. Er sei verhindert, teilte Dylan mit. Seine Rede lässt er vortragen. Man kann diese Reaktion mit gutem Recht unhöflich finden. Dylans Absage an die Akademie ist jedoch kein Affront. Sie ist die Krönung seines künstlerischen Schaffens. Dylan erhält den Nobelpreis, weil er eine "neue poetische Ausdrucksweise innerhalb der großen amerikanischen Songtradition" geschaffen hat. Dieser neue dichterische Ausdruck gründet bei Dylan im Fluss der Identitäten, im Spiel mit den Masken. Im Zentrum steht das Verschwinden und Verklären.

Der Song, der Dylans Schaffensweise offenbart, wurde 1967 im Keller eines großen, pinkfarbenen Hauses in West Saugerties, New York eingespielt - als eines von mehr als hundert Stücken. Während eine Handvoll dieser Keller-Songs fast zehn Jahre später unter dem Namen "The Basement Tapes" veröffentlicht werden, dauert es noch einmal dreißig Jahre, bevor dieses ziemlich verrauschte Stück Musik auf dem Soundtrack eines Films zum ersten Mal offiziell erscheint. Der Titel: "I'm Not There".

Wer Bob Dylan verstehen möchte, der muss sich diesen Song anhören, sein mysteriösester, aber vielleicht auch sein schönster. "I'm Not There" ist ein geisterhafter Folk-Song, das Fragment einer Beziehungsgeschichte. Dylan windet sich durch eine Erzählung von erlösender Liebe, Abhängigkeit und Verlust. Am Ende jeder Strophe ringt er sich mal resigniert, mal verzweifelt zum Refrain durch: "I'm not there, I'm gone". Ich bin nicht da, ich bin schon lange weg.

Bob Dylan macht, was er immer macht, er löst die Kunstfigur Dylan auf

Eine Akademie, die den Künstler Bob Dylan auszeichnet, darf sich also nicht wundern, wenn dieser Künstler macht, was er immer macht: die Kunstfigur Bob Dylan aufzulösen, um sie an einem anderen Ort, in einer anderen Gestalt wieder erscheinen zu lassen. Denn immer, wenn Dylan fassbar wurde, hat er sich weiterbewegt. Er ist verschwunden, um in einer neuen Inkarnation zurückzukehren. Als der junge Folk-Sänger zur Stimme seiner Generation auserkoren wurde, verschleierte Dylan die einst klaren Aussagen seiner Songs und wurde zum Verräter mit der E-Gitarre. Als er mit seinem neuen kalt-schimmernden Quecksilber-Sound die moderne Rockmusik erfunden hatte, zog sich Dylan aufs Land zurück, um die Mythen und die Musik der amerikanischen Geschichte zu erkunden. Als dann zwei Jahre später die Hippies in Woodstock einfielen, um das große Fest der Gegenkultur zu feiern, hatte Dylan gerade eine Country-Platte mit Johnny Cash aufgenommen - in Nashville, dem kommerziellen Herzen des musikalischen Amerikas.

Bob Dylan ist der Mann, der niemals da war. Er war immer einen Schritt weiter als seine Anhänger es von ihm erwarteten. Und so war und ist Dylan nie Dylan, sondern immer ein anderer. Nun wird der Musiker als Autor gefeiert, dabei ging es ihm in vielen seiner Songs gerade um das Spiel mit dem Konzept der Autorschaft. 1970 veröffentlichte Dylan ein Album mit dem Titel "Self Portrait", auf dem Cover ein Selbstporträt des Künstlers. Und was fehlt auf dem ersten Song dieses Albums? Richtig, es ist Dylan selbst, der zum ersten und einzigen Mal in seiner Karriere auf einem eigenen Song nicht zu hören ist. Als Dylan Jahrzehnte später den ersten Teil seiner Autobiografie "Chronicles" schreibt, bedient er sich bei Marcel Proust, Ernest Hemingway, Jack London und H.G. Wells. Er erzählt seine Lebensgeschichte mit den Worte anderer Schriftsteller - ohne diese als solche zu kennzeichnen.

Der späte Dylan hat seine Lieder einmal als "Mysterienspiele" bezeichnet. Und so muss man sie verstehen. Es sind Maskenbälle, hier trifft Hochkultur auf Pop, feines Zitat auf plumpes Plagiat. Da tauchen Ovid und Vergil auf, die Ilias und die Bibel, Rimbaud und Shakespeare. Letzterer schrieb: "Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab." Nach diesem Vorbild inszeniert Dylan seine Songs und nach diesem Vorbild inszeniert er auch sich selbst. So ergibt dann auch die Begründung der Akademnie für den völlig verdienten Literaturnobelpreis einen Sinn: Die neue poetische Ausdrucksweise, die Dylan geschaffen hat, ist das Spiel mit den Identitäten, das Ineinanderfließen der Zustände, Zeiten und Personen, die Auflösung des Ichs. Man sollte sich deshalb nicht wundern, dass er auch von der Nobelpreis-Bühne schon wieder verschwunden ist. Er hat es ja in seinen Songs verraten.

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