Arbeiterwohnungen:D-Zug unter Denkmalschutz

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Unterkünfte nach britischem Vorbild: Die ersten Wohnungen für Zechenarbeiter wurden wie die "Victorian rows" gebaut, hierzulande D-Zug genannt. (Foto: diverse)

Schon im 19. Jahrhundert waren Fachkräfte rar. Um sie anzulocken, bauten Unternehmen für sie Unterkünfte. Vorbild waren die "Victorian rows" in England. Die Zechensiedlungen sind auch heute sehr begehrt.

Von Stefan Weber

Die Häuser waren ein- bis eineinhalbgeschossig gebaut und bis zu 200 Meter lang. Für zehn bis zwölf Wohnparteien gab es eine gemeinsame Wasserstelle sowie Außentoiletten, und die Kanalisation verlief oberirdisch: Die ersten Unterkünfte für Zechen-arbeiter im Ruhrgebiet Mitte des 19. Jahrhunderts waren kaum mehr als einfache Schlafstellen, teils für Ledige, teils für Familien. Als Vorbild dienten die "Victorian rows" in England - im deutschen Sprachgebrauch auch D-Zug genannt.

Trotz simpler Ausstattung erfüllten die Häuser ihren Zweck: Sie bildeten insbesondere für viele Landarbeiter einen Anreiz, auf der Zeche zu arbeiten. Wohnraum war knapp in der Gründungsphase des Ruhrgebiets. Und die Unternehmen suchten händeringend nach Arbeitskräften. Da lag es nahe, Arbeiter mit der Aussicht auf ein Dach über dem Kopf zu locken - und, fast noch wichtiger, an sich zu binden. Denn um 1900 war die Fluktuation in den Zechenbelegschaften extrem hoch. Die Betriebe warben sich ständig gegenseitig Arbeitskräfte ab.

Eine Werkswohnung dagegen machte die Beschäftigten ein Stück weit immun gegen die Lockangebote der Konkurrenz. Denn bis 1919 war in Deutschland eine Koppelung von Arbeits- und Mietvertrag möglich: Wer seinen Arbeitsplatz verlor, verlor auch seine Wohnung - und zwar noch am selben Tag. "Der Werkssiedlungsbau war somit vorrangig eine betriebliche Notwendigkeit und weniger Ausdruck sozialer Großzügigkeit", heißt es in einer Untersuchung des Landschaftsverbandes Rheinland über Arbeiter- und Werksiedlungen im Ruhrgebiet. In Städten wie Duisburg oder Hamm wohnten zu Beginn des ersten Weltkriegs 1914 etwa zwei Drittel der Bergarbeiter in Zechensiedlungen. Neben den Unternehmen der Montanindustrie (also überwiegend Zechen sowie Stahl- und Eisenwerke) gehörten vor allem Eisenbahneigner (wie die Reichsbahn oder die Königlich Preußische Eisenbahndirektion) und Genossenschaften zu den ersten Siedlungsbauern im Ruhrgebiet.

Die Nähe zum Werk war bequem. Und bei einer Störung waren die Mitarbeiter schnell vor Ort

Mit Unterkünften nach Art des "D-Zugs" ließ sich jedoch schon bald kaum mehr ein Arbeiter locken. Die Menschen suchten mehr Wohn- und Lebensqualität. So änderte sich ab 1880 die Bauweise. Nun wurden bevorzugt eineinhalbgeschossige Doppelhäuser in ein- oder beidseitiger Reihung entlang einer Straße erstellt. Die Häuser besaßen häufig Gärten und einen Kleintierstall. Inspiriert von der Pariser Weltausstellung 1889 erhielt der Werkssiedlungsbau nach der Jahrhundertwende neue Impulse. Die Architekten begannen zu experimentieren. Sie reihten Häuser nicht mehr nur entlang einer Straße, sondern entwickelten architektonisch vielfältige Gesamtkonzeptionen für eine Siedlung. Historiker rühmen insbesondere die Wohnungsbauaktivitäten des Essener Stahlkonzerns Krupp. Dessen Siedlungen folgten der Idee einer Gartenstadt, mit viel Grün und dörflichem Charakter. Die einzelnen Häuser dagegen unterschieden sich im Ruhrgebiet landauf, landab kaum. Der Grund: Die Bauabteilungen der Großunternehmen orientierten sich meist an Musterhäusern und Musterkatalogen. Zudem gab es nur wenige renommierte Architekten, die für den Werkswohnungsbau angeworben wurden.

Siedlungen entstanden stets in unmittelbarer Nähe der Werke. Das war bequem für die Beschäftigten. Sie hatten einen kurzen Weg zur Arbeit. Und das war gut für das Unternehmen. Denn im Falle einer Störung waren die Mitarbeiter schnell vor Ort - wichtig, in Zeiten, in denen es noch keinen öffentlichen Nahverkehr gab. Werksaufseher und Verwalter wohnten ebenfalls in den Kolonien - bevorzugt in der Nähe der Eingänge.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galten Arbeitersiedlungen aus der Zeit vor 1914 als rückständig und nicht erhaltenswert. Viele Eigentümergesellschaften vernachlässigten die Gebäude und investierten häufig nur noch das Nötigste. Als im Zuge der ersten Kohlekrise 1958 die ersten Zechen stillgelegt wurden, gingen immer mehr Siedlungshäuser in Privatbesitz über. Andere wurden abgerissen - was häufig nicht nur Bausubstanz, sondern auch eine intakte Nachbarschaft und Sozialstruktur zerstörte. So formierte sich in den Siebzigerjahren unter den Bewohnern zunehmend Widerstand gegen Pläne zum Abriss von Arbeitersiedlungen.

Zum Beispiel in der Siedlung Flöz Dickebank in Gelsenkirchen, Eigentum der Rheinisch-Westfälischen Wohnstätten AG. Die 1868 für Bergarbeiterfamilien gebaute Kolonie sollte im Jahr 1974 Hochhäusern weichen. Der Abriss war bereits genehmigt und der Bebauungsplan einstimmig beschlossen. Doch dann formierte sich die "Bürgerinitiative Flöz Dickebank" und leistete erbitterten Widerstand. Sie organisierte Protestmärsche, mischte die Politik auf, lud Stadtplaner ein. Das Engagement der Gelsenkirchener wurde zur Blaupause für Bürgerinitiativen gegen die Privatisierung oder den Abriss von Arbeitersiedlungen im ganzen Revier.

Seit Ende der Achtzigerjahre genießen die Kolonien eine neue Wertschätzung. Wissenschaftler und Denkmalschützer haben deren bau- und sozialgeschichtliche Bedeutung entdeckt. Viele Siedlungen wurden seitdem aufwendig saniert und sind heute touristische Attraktionen.

© SZ vom 09.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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