Mutter eines behinderten Kindes:"Julius lässt mich in meine Seele blicken"

Gabriele Noack

Gabriele und Julius Noack: Er lässt mich in meine Seele blicken, so tief wie es noch nie zuvor jemand getan hat

(Foto: privat)

Der Sohn von Gabriele Noack kam schwerbehindert auf die Welt. Wie sie lernte, ihn zu lieben.

Protokoll von Lars Langenau

"Ich habe mir mein Leben ganz anders vorgestellt. Ich träumte von einer heilen und glücklichen Familie. Als ich mich in meinen Mann verliebte, hatte ich die romantische Überzeugung, aus dieser Liebe müsse etwas Großartiges entstehen: ein Kind. Da mein Mann schon zwei erwachsene Kinder hatte, musste ich Überzeugungsarbeit leisten. Mit 34 wurde ich zum ersten Mal Mutter.

Wir waren eine kleine Familie, ich wünschte mir ein zweites Kind. Vier Jahre später war ich erneut schwanger. Wir waren uns einig, dass ich kein behindertes Kind austragen würde, falls etwas festgestellt werden sollte. Doch wer weiß, ob ich am Ende wirklich abgetrieben hätte, wenn ich von einer Behinderung gewusst hätte? Nun, alle Untersuchungen waren ok und ich habe diesen Gedanken sehr schnell verdrängt. Ich war mir auch irgendwie sicher, dass mich nicht noch ein Schicksalsschlag treffen würde, da ich schon ein Päckchen aufgrund meiner eigenen, nicht immer einfachen Kindheit tragen musste.

Als dann mein zweiter Sohn auf die Welt kam und mir auf die Brust gelegt wurde, war ich der glücklichste Mensch der Welt. In jeder Zelle meines Körpers breitete sich Liebe für ihn aus. Doch als ich Julius genauer betrachtete, sah ich, dass er nicht perfekt war. Er hatte einen riesigen Storchenbiss, eine knallrote Stirn - und ihm fehlte das letzte Glied am rechten Mittelfinger. Es war nur ein kleines Stück, aber für mich war es eine Katastrophe. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur Menschen, an denen alles dran ist.

Die Ärzte wollten mir erklären, dass alles normal sei, dass der Finger im Leib abgeschnürt worden sei und sich das verwachse. Ich konnte das nicht glauben, sondern war mir sicher, dass auch andere Dinge nicht stimmten. Nur eine Ärztin teilte meinen Verdacht, weil Julius so verkrampft war. Sie vermuteten eine Hirnblutung während der Schwangerschaft. Ich entwickelte Schuldgefühle, dachte verzweifelt darüber nach, ob und was ich während der vergangenen neun Monate falsch gemacht haben könnte. Julius wurde mir zu weiteren Untersuchungen wieder weggenommen - und ich fühlte mich zwischen all den glücklichen Müttern plötzlich wie der Schwarze Peter.

Ich konnte Julius nicht annehmen, wie er war

Die erste Zeit mit Julius wurde zur schlimmsten meines Lebens. Ich war davon überzeugt, dass ich einem Leben mit einem behinderten Kind nicht gewachsen sei. Ich dachte, dass andere das besser meistern könnten als ich. Am Anfang hörten mein Mann und ich immer wieder wundersame Geschichten von Läufern, Radfahrern und Basketballspielern, die als Kinder eine Hirnschädigung hatten, und ihren Weg dennoch gegangen sind. Doch auf Julius traf und trifft das nicht zu.

Bereits ein paar Tage nach seiner Geburt musste Julius während einer MRT-Untersuchung des Kopfes künstlich beatmet werden. Nach Beendigung der Narkose konnte er über eine längere Zeit nicht mehr selbständig atmen. Ich dachte damals, wenn das so bleibt, lieber Gott, dann lass ihn lieber sterben. Dann wäre das ein grauenhaftes Ende mit Schrecken, besser aber als ein Schrecken ohne Ende.

In mir toben Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Erst nach mehreren Untersuchungen war klar, dass es keine Hirnblutung war. Bis heute wissen wir nicht, was Julius' eigentliches Leiden ist und woher seine schweren epileptischen Anfälle kommen. Wir müssen damit leben, dass Julius schwerbehindert bleiben wird. Als mir immer bewusster wurde, dass es keine Chance mehr auf ein "Alles wird gut" gibt, brach eine Welt in mir zusammen. In diesem Moment der Wahrheit wollte ich ihn, so wie er war, nicht haben, .

Ich empfand das Schicksal als eine blutrünstige Zecke, die sich an unserem Leben festgebissen hatte und uns leersaugte. Und ist es nicht so, dass jede Mutter ihr eigenes Baby als das schönste der Welt ansehen muss? Ich bekam Angst, weil sich dieses Empfinden bei mir einfach nicht einstellen wollte. In mir tobten Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Mr. Hyde sagte, "Julius ist eine Enttäuschung!" Dr. Jekyll ermahnte mich: "Ein Kind darf keine Enttäuschung sein! Niemals!" Fragen marterten mich: Warum? Warum ich? Warum wir? Warum mein Baby? In 95 Prozent der Geburten geht alles gut, warum gehöre ich zu diesem lächerlichen Rest?

Flucht und Verdrängung

Ich will nichts beschönigen, so waren meine Gedanken. Eigentlich furchtbar, dass ich meinen Sohn nicht auf Anhieb annehmen und lieben konnte, sondern stattdessen schockiert war. Wenn ich heute darüber nachdenke, erscheint mir das unwirklich, aber so war es nun mal. Ich wollte irgendwann nur noch ausbrechen aus dieser Situation, ganz irrational. Ich setzte mir in den Kopf, dass ein drittes, gesundes Kind mir wieder eine heile Welt verschaffen und alles wieder gut machen sollte.

Doch mein Mann legte ein Veto ein. Plötzlich richtete sich meine Wut, meine Verzweiflung, meine Traurigkeit gegen ihn. Ich dachte an Trennung. Mein Mann aber hatte schon eine schwere Trennung hinter sich und wusste für sich, dass er das nicht noch einmal durchmachen wollte. Trennung kam für ihn nicht in Frage. Erst nach vielen Tränen, und guten, aufmerksamen Gesprächen ließ ich von diesem Gedanken ab. Dass er so standhaft blieb, dafür bin ich ihm heute unendlich dankbar.

Mein Mann hatte seinen Schmerz lange verdrängt, er arbeitete viel und flüchtete sich in den gewohnten Alltag. Zunächst funktionierte das, doch dann merkte ich, wie sehr er mit seiner eigenen Trauerarbeit hinterher hinkte. Ich hatte das Gefühl, für uns alle zu trauern. Erst viel später wurde ihm das bewusst.

Abgerutscht in eine postnatale Depression

Ich bin ausgebildete Krankenschwester, habe aber nie in dem Beruf gearbeitet. Ich wollte Psychoanalytikerin werden und befand mich selbst in Analyse, was mir wirklich geholfen hat. Ich musste stark an mir arbeiten, an meinen Einstellungen und den Gefühlen in mir, die mich daran hinderten, mein Leben so anzunehmen wie es ist. 'Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, sondern meist eine graue Mischung', sagte mir mein Analytiker, 'aber mit dieser Farbe kennen Sie sich noch nicht so gut aus.'

Ich rutschte in eine postnatale Depression. Erst Antidepressiva halfen mir, wieder in die Spur zu kommen. Sie waren eine Nothilfe, machten mich zugänglich für Gespräche und bewirkten, dass von dem Gesagten auch etwas ankam. Aber dauerhaft Medikamente nehmen wollte ich nicht. Meine analytische Therapie ließ mich erkennen, dass meine Angst, meine Unzufriedenheit, meine Traurigkeit sehr viel mit meinen Erwartungen zu tun hatten und ich mit einer intakten, gesunden Familie meine eigenen Kindheitssehnsüchte befriedigen wollte. Mein damaliges berufliches Vorhaben habe ich aufgegeben. Klar habe ich noch Wünsche und Ziele, aber ich klammere mich nicht mehr daran. Ich bin viel offener geworden. Was für mich zählt, ist die Gegenwart, das Hier und Jetzt.

Und ich konnte immer mehr akzeptieren, dass das Leben einfach nicht planbar ist, warum sollte also gerade ich von Schicksalsschlägen verschont bleiben, wo doch alle Menschen ein kleineres oder auch größeres Päckchen zu tragen haben? Zudem halfen mir meine Freundinnen, die Liebe meines Mannes, und ja, die Liebe zu meinen Kindern - und zu mir selbst. Ohne Selbstliebe klappt es nicht, aus so einem tiefen Loch wieder herauszufinden.

Eine Reise zu mir

Es war eine schwere Zeit. Auch weil wir nie wussten, ob Julius den nächsten epileptischen Anfall überleben wird. Oft dauerte so ein Ereignis fast eine Stunde. Erst als Julius ungefähr zwei Jahre alt war, war ich mir sicher, dass ich es schaffen werde. Ich habe gelernt, die Situation anzunehmen, was aber auch bedeutet, dass ich traurig sein darf, wenn mir danach ist. Julius wird mir immer vertrauter, und ich kann ich ihn so lieben wie er ist.

Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, dass ich den fehlenden Mittelfinger meines Sohnes als etwas Schlimmes empfand. Meine Güte, wie anmaßend ich war! Ich bin inzwischen in vielen Dingen gelassener geworden. Lange konnte ich mein Leben mit Julius nicht als perfekt betrachten. Aber was ist eigentlich perfekt? Das Gefühl ungenügend zu sein, ist inzwischen verschwunden. Zudem habe ich heute eine andere Vorstellung davon, was ich aushalten kann - aber auch von dem, was Leben heißt. Es ist alles Leben! Es muss nicht so oder so sein - oder unseren Vorstellungen folgen. Perfektion gibt es nicht, deshalb brauche ich auch nicht mehr danach zu streben.

Ich habe den Eindruck, dass wir in einer extrem narzisstisch orientierten Gesellschaft leben, in der sich der Blick überwiegend nach außen richtet. Wir sind ständig in Konkurrenz zu anderen, wollen uns erfolgreich und glücklich zeigen. Die Schattenseiten des Lebens haben wenig Platz. Dabei gehören Traurigkeit, Leid und Schmerz doch genauso zu unserem Alltag dazu. Letztendlich habe ich durch meinen behinderten Sohn eine Reise zu mir angetreten. Ich bin vielleicht auch ein etwas anderer Mensch geworden, und meine Reise dauert weiter an.

Julius ist jetzt vier Jahre alt. Er kann sich nicht fortbewegen, kann nicht sitzen, nicht mit den Augen ein Ziel fixieren, nicht sprechen, nicht alleine essen und trinken, nicht koordiniert greifen. Trotz seiner vielen Medikamente unterliegt sein Leben starken Schwankungen: Er hat nach wie vor schwere epileptische Anfälle und wird seit einiger Zeit häufig über eine Bauchsonde ernährt. Es ist enorm schwer herauszubekommen, was er will und was er mag - und selbst, ob er uns erkennt.

Mit den Behinderungen können wir mittlerweile gut leben. Es sind die epileptischen Anfälle, die schwer zu ertragen sind. Manchmal kann ich es kaum aushalten, ihn so leiden zu sehen. Gleichzeitig macht Julius etwas unbeschreiblich Ergreifendes: Er lässt mich in meine Seele blicken, so tief wie es noch nie zuvor jemand getan hat."

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Gabriele Noack, 42, hat gerade ein Buch veröffentlicht. "Mein Glück kennt nicht nur helle Tage. Wie mein behindertes Kind mir beibrachte, die Welt mit anderen Augen zu sehen"

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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