Sexuelle Belästigung:"Mehr als ein Wegschieben passiert nicht"

dpa-Story: RAW-Gelände

Auf der Tanzfläche werden Grenzüberschreitungen häufiger hingenommen als in anderen Lebenssituationen, nur in wenigen Fällen werden Übergriffe angezeigt.

(Foto: Sophia Kembowski / dpa)
  • Frauen melden ungewollten Berührungen in Clubs selten bei den Türstehern. Lieber keinen Stress machen, ist die Devise.
  • In München ist die Zahl der angezeigten Sexualdelikte in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen.
  • Nicht enthalten in dieser Statistik sind Beleidigungen auf sexueller Grundlage, etwa verbale Angriffe oder Tätlichkeiten unterhalb der Schwelle zur sexuellen Nötigung.

Von Alice Hasters und Elisabeth Kagermeier

"I got a feeling - woohoo - that tonight's gonna be a good night", grölt die Menge begeistert mit. Es ist kurz nach Mitternacht in der Nachtgalerie an der Landsberger Straße. Das 17-jährige Bestehen des Clubs wird gefeiert, die meisten Gäste sind kaum älter. Die Nachtgalerie zieht seit jeher junge Menschen an, denn sie ist vor allem für eins bekannt: billigen Alkohol. Wodka Bull gibt es für zwei Euro, verrät das leuchtende Schild, auf dem sich zur Zierde zwei leicht bekleidete Mangafiguren rekeln.

Die Stimmung ist ausgelassen und friedlich an diesem Abend. Doch das ist im Münchner Nachtleben nicht immer so, vor allem für Frauen. Immer wieder kommt es zu sexuellen Belästigungen oder Übergriffen, die Zwischenfälle auf der Party für alle 18-Jährigen im Rathaus haben zuletzt für Aufsehen gesorgt. Dass ähnliche Fälle sich häufen, kann die Polizei nicht bestätigen. Neun schwerwiegende Sexualdelikte in Bars und Clubs wurden 2015 angezeigt, noch einmal etwa doppelt so viele sexuelle Beleidigungen. Doch das Problem an der Statistik ist: Die Dunkelziffer ist groß, das weiß auch die Polizei. Viele Fälle von sexueller Belästigung werden nicht gemeldet.

Fragt man junge Frauen in verschiedenen Clubs, ob sie beim Feiern schon einmal gegen ihren Willen angefasst wurden, nicken die meisten wie selbstverständlich. Natürlich, das sei doch normal, heißt es, vor allem in sogenannten "Aufreißerschuppen". Dort, wo bei massentauglicher Musik das Kennenlernen im Vordergrund steht. "In dem Moment, wenn es passiert, bin ich kurz erschrocken oder sauer, aber mehr als ein Wegschieben passiert nicht", sagt zum Beispiel Katja, 23, in der Nachtgalerie.

Dierk Beyer, Besitzer der Clubs Nachtgalerie und Neuraum, ist sich des Problems bewusst: Wo viele Menschen betrunken aufeinanderträfen, komme es immer wieder zu Konflikten. Die Dynamik habe sich in seinen 20 Berufsjahren nicht geändert. Doch drastische Maßnahmen, etwa dass jemand wegen sexueller Belästigung aus dem Club geworfen werden muss, seien eher die Ausnahme. Vielleicht auch, weil sich viele Fälle unterhalb einer gewissen Schwelle abspielen. Wenn im Getümmel Grenzen überschritten werden, geht es meistens schnell und bleibt vom Umfeld unbemerkt.

Die ersten Pärchen tanzen eng miteinander. Eines davon tauscht einen zögerlichen Kuss aus. Rasch gleitet seine Hand danach ihren Rücken hinab Richtung Po. Sie schiebt die Hand bestimmt weg. Doch er scheint es nicht zu akzeptieren. Beim zweiten Versuch kurz darauf lässt sie die Hand liegen. Bei einem blonden Mädchen ein paar Meter daneben geht es anders aus. Sie tanzt umringt von einer Männergruppe und schwankt bereits. Einer von ihnen nähert sich von hinten, fährt mit der Hand über den Oberschenkel und zieht dabei ihr Kleid hoch. Sie dreht sich um, blickt genervt, boxt ihn gegen die Schulter und verlässt den Kreis. Die Männer tanzen weiter.

Wie aggressiv gebaggert wird, hängt wohl auch von der Musik ab: Bei Robbie Williams schmachtendem "Angels" liegen sich alle kumpelhaft in den Armen, aber wenn kurz darauf Nicki Minaj "Oh my gosh, look at her butt" singt, verstehen das viele Männer als Aufruf.

Ähnliche Szenen um zwei Uhr morgens im Neuraum nahe der Hackerbrücke, Münchens letzter echter Großraumdisco. Auch hier dominiert die gleiche Anmachstrategie: das von hinten Antanzen. "Schon komisch, zuerst den Körper von jemandem hinter sich zu spüren, bevor man sein Gesicht gesehen hat", findet Lena, 20. Gegen hartnäckige Kandidaten haben sie und ihre Freunde eine Strategie: Notfalls wird die Begehrte in die Mitte genommen und ein Kreis um sie gebildet. "Spätestens dann schnallt jeder, dass er nicht erwünscht ist."

Fast jeder. Ein Junge mit Jeanshemd und Dutt arbeitet sich lippenbeißend und kopfnickend auf der Tanzfläche von einer Frau zur nächsten. Die Betroffenen stehen eng beieinander, drehen ihm entschieden den Rücken zu und hören auf zu tanzen. Doch keine von ihnen sagt etwas. Lieber halten sie die paar Minuten lang aus, bis er weiterzieht.

Nachts auf der Straße hätten in der Situation viele geschrien

Am Rand stehen mehrere Security-Angestellte und verfolgen das Zappeln zum Chartmusik-Remix ausdruckslos. Pro Nacht setzt Besitzer Beyer 20 bis 25 Menschen ein, die für Sicherheit sorgen. "Die sind immer ansprechbar für unsere Gäste", sagt er. Den jungen Mann am Treppenabgang weist jedoch niemand zurecht. Immer wieder hält er vorbeigehende Mädchen am Handgelenk fest.

Erst nach längeren Befreiungsversuchen und wenn das letzte Lächeln verschwunden ist, lässt er wieder los. Nachts auf der Straße hätten in so einer Situation wohl viele bereits geschrien. Warum er das macht? "Spaß", sagt er und ergänzt auf Nachfrage: "Weil ich stärker bin." Keine unbeholfene Anmache also, sondern eine Machtdemonstration.

Sexualdelikte

Die Münchner Polizei hat im vergangenen Jahr in Bars oder Clubs neun schwerwiegende Sexualdelikte registriert. 2014 waren es sechs, 2011 dagegen noch 19 Fälle. Die Beleidigungen auf sexueller Grundlage in Nachtlokalen bewegen sich mit 18 bis 20 Fällen seit vier Jahren auf nahezu gleichem Niveau. Allerdings sind in diesen Zahlen etwa nicht die Vergehen erfasst, die auf dem Heimweg passieren. Außerdem geht die Polizei von einer hohen Dunkelziffer aus, da viele Opfer sexuelle Übergriffe nicht anzeigen.

Insgesamt ist die Zahl der angezeigten Sexualdelikte in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen. 2015 wurden im Stadtgebiet 717 Sexualdelikte registriert, fünf Prozent weniger als im Vorjahr. Darunter fallen sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Exhibitionismus, verbotene Prostitution und Zuhälterei sowie Pornografiedelikte. Nicht enthalten sind Beleidigungen auf sexueller Grundlage, etwa verbale Angriffe oder Tätlichkeiten unterhalb der Schwelle zur sexuellen Nötigung, zum Beispiel "Busengrapscher". 2015 wurden 358 Fälle im Stadtgebiet angezeigt.

3.30 Uhr, Ortswechsel. Es ist brechend voll in der Milchbar, einem Club an der "Feierbanane" in der Sonnenstraße. Wer sich hier einen Weg durch die Menge bahnen möchte, muss Geduld haben und Körperkontakt in Kauf nehmen. Statt kurzen Kleidchen und Muskelshirts dominieren Hipsterbärte und schwarze Klamotten. Die Partygäste bewegen sich ruhiger, wippen trotz ihres Alkoholpegels lieber cool mit dem Kopf, anstatt ausgelassen zu tanzen. Niemand pirscht sich von hinten heran. Zur Begrüßung halten die Männer lieber förmlich die Hand hin.

Angefasst wird trotzdem, aber lieber heimlich. Im Gedränge kommt es zu ungewollten Berührungen. "Da hat man schnell mal eine Hand am Po oder zwischen den Beinen", erzählt eine Münchnerin, die ihren Namen lieber nicht sagen möchte. Das könne zwar auch mal unabsichtlich passieren, aber an Zufall glaubt sie nicht. Dem Türsteher würde sie trotzdem nicht Bescheid sagen, lieber keinen Stress machen. "Oft kann man ja nicht mal sagen, von wem die Hand kam." Um nicht fälschlicherweise beschuldigt zu werden, hält ein Freund von ihr im Getümmel demonstrativ die Hände in die Luft. "Ich will zeigen: Ich mache nichts", erklärt er.

Kriegen die Sicherheitsleute Konflikte mit, reagieren sie schnell. An der Bar kommt es zu einer Schlägerei. Noch bevor die meisten Gäste etwas mitbekommen, sind die vier Involvierten bereits vor die Tür verbannt. "Gewaltdelikte kommen im Nachtleben öfter vor als sexuelle Übergriffe", sagt Dierck Beyer. Jakob Faltenbacher von der Milchbar bestätigt diesen Eindruck, will sonst aber nicht gerne über das Thema Belästigung sprechen.

Offensiv geht in München vor allem einer das Problem an: David Süß, Inhaber des Harry Klein an der Sonnenstraße. Andere Clubbesitzer verweisen gerne auf ihn. Das Harry Klein ist ein Elektroclub mit einem Ruf weit über München hinaus. Auf der Tanzfläche wenden die meisten das Gesicht dem DJ und nicht einander zu. Es gibt weniger suchende Blicke durch die Menge nach neuen Bekanntschaften, ins Gespräch kommt man eher an der Bar oder beim Rauchen vor der Tür. "Uns ist wichtig, dass alle Gäste sorglos feiern können. Deshalb passen die Türsteher, aber auch das Bar- und Toilettenpersonal aktiv auf, dass nichts passiert", sagt Süß.

Doch nicht nur im Club kann es zu Übergriffen kommen, wer sich draußen aufhält, ist oft ein besonders leichtes Opfer für Übergriffe, sagt Birgit Treml, Vorsitzende von Condrobs. "Im Club wird man im Gedränge zwar schneller betatscht, aber gefährlicher ist es da, wo man niemanden zur Hilfe rufen kann", sagt sie. Das sei eher im öffentlichen Raum der Fall, weil sich hier niemand verantwortlich fühle.

Auch deswegen patrouillieren jedes Wochenende von 23 bis 4 Uhr zwei Streetworker des Vereins entlang der Feierbanane. Finanziert werden sie von der Stadt. Sie schreiten zum Beispiel präventiv ein, wenn sich Frauen männliche Begleiter für den Heimweg anbieten. "Wir sprechen Menschen an, die so aussehen, als ob sie nicht wüssten, von wem sie da Gesellschaft haben", sagt Treml. Wenn dem so ist, übernehmen sie den Fall, besorgen dem Mädchen ein Taxi.

Mittlerweile ist es halb fünf Uhr morgens. Die Clubs leeren sich, die Partygäste machen sich müde auf den Heimweg. Die meisten von ihnen haben eine unbeschwerte Nacht verbracht, manche sind gegen ihren Willen angefasst oder belästigt worden. Eine ganz normale Partynacht. Oder eben nicht.

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