Ausbeutung:Namenlose im Niemandsland

Ein Mädchen flieht aus Sugartown, um der gnadenlosen Ausbeutung dort zu entgehen. Schlepper bringen sie in die neue Welt, und sie sieht: Auch dort gibt es nichts als Ausbeutung.

Von Fritz Göttler

Sie heiße Dawn, sagt das Mädchen, als man es nach seinem Namen fragt, es ist natürlich nicht sein richtiger Name. Gleich darauf sagt es: "Ich bin ... auf der anderen Seite geboren." Die andere Seite, das ist Sugartown, eine Stadt in der früher sogenannten Dritten Welt. Natürlich ist auch Sugartown nicht der richtige Name von Dawns Stadt, das Gleiche gilt für ihren Bruder Charlie und ihre beste Freundin Didi und den Schlepper Lucky, der sie mit großen Versprechungen in die Fremde lockt. Als sie am Ende dieses Irrwegs durch Hoffnung und Desillusion einem Reporter ihre Geschichte erzählt, besteht Dawn auf Fiktionalität, Anonymität, Allgemeingültigkeit.

Ich mag diesen Namen, sagt Dawn. "Er erinnert an einen Neuanfang. Eine Sonne, die aufgeht. Dawn of the day ..." Die Hoffnung auf eine Zukunft ohne Diskriminierung, ohne Ausbeutung. Schluss mit der erschöpfenden Knopflochnäherei, mit den Jobs, die den kleinen Bruder auslaugen. Eine Flüchtlingsgeschichte, eine Aufbruchsgeschichte, hinüber in die "Weiße Welt" - auch dies ein bitter fiktiver Name. Hier soll es Arbeit und Wohlstand für alle geben, von hier kann man Geld nach Hause schicken! Aber irgendwann merkt man, dass eben diese "Weiße Welt" mit ihrem kapitalistischen System eigentlich für die Misere in der Heimat verantwortlich ist.

Dawn berichtet von den Versprechen der Schlepper, den miesen Vorschüssen und Schulden, von Tagen, zusammengepfercht auf einer Ladefläche, von Durst und Notdurft in einen Eimer, von Internierung in der Hafenstadt, schließlich einem Schlauchboot, überfüllt und mit zu wenig Benzin. Dann, in der "Weißen Welt", die gleiche Ausbeutung, Salatpflücken, DVDs verkaufen, auch zweideutige Angebote zur Prostitution, kriminelle Banden, Fluchtversuche und brutale Bestrafung.

Am ersten Morgen im neuen Land gibt es einen winzigen Moment von Glück. Man darf ins Bad, jeder sechs Minuten. Dawn und Didi dürfen gemeinsam hinein, also ausnahmsweise zwölf Minuten! "Unsere Körper im Dampf der heißen Dusche; ihr breiter, kompakter, üppiger; mein langer, schlaksiger. Wir kannten uns nackt, seit wir fünf waren. Hatten geklatscht und gekniffen. Hatten gegrinst, als die Wölbungen kamen. Und Witze gemacht, als sie größer wurden. Uns gegenseitig Spitznamen gegeben."

Der dänische Autor Martin Petersen lässt Dawn ohne Larmoyanz erzählen, ein Ineinander von Leiden und Abenteuer - und die Energie dieses Mädchens ist unglaublich bewegend. Den Namen verschweigen, das ist ein fester Teil seines Lebens geworden. Brenner nennen die Flüchtlinge sich, ihre Ausweispapiere müssen sie verbrennen, alles, was anzeigen könnte, woher sie kommen - und wohin sie wieder zurückgeschickt werden könnten, wenn man sie aufgreift. Namenlose im Niemandsland. Spitznamen hatten Dawn und Didi sich gegeben: Besen und Kloß. "Das durfte niemals jemand hören. Ich hatte das Versprechen gehalten."

Martin Petersen: Exit Sugartown. Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger. Dressler Verlag, Hamburg 2016. 287 Seiten, 14,99 Euro.

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