Türkische Chronik (XX):Das Jahr eines intensiven Albtraums

Türkische Chronik (XX): Ein Mann hält am 29. Dezember ein Schild mit der Aufschrift: "Die Freiheit von Schrifstellen wird nicht garantiert" in die Luft. Anlass ist der Prozess gegen die türkische Autorin Aslı Erdoğan.

Ein Mann hält am 29. Dezember ein Schild mit der Aufschrift: "Die Freiheit von Schrifstellen wird nicht garantiert" in die Luft. Anlass ist der Prozess gegen die türkische Autorin Aslı Erdoğan.

(Foto: AFP)

2016 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der türkische Rechtsstaat beerdigt wurde. Den Oppositionellen wird der Strom abgedreht - buchstäblich.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Das Jahr 2016 ist fast zu Ende. Gibt es fürs neue Jahr Grund zur Hoffnung? Mir geht es auch nicht anders als uns allen; ich weiß es nicht. Einer der Schrecken, die uns 2016 heimsuchten, fand in der Türkei statt. Es war das Jahr eines intensiven Albtraums, der noch nicht vorbei ist. Viele Deutsche, mit denen ich in den letzten Monaten über die Türkei gesprochen habe, fühlen sich an die dunkle Vergangenheit ihres Landes erinnert. Für sie war es, als ob die türkische Version von Bertolt Brechts Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" aufgeführt werde.

Der Kampf für die Demokratie hat eine schwere Niederlage erlitten. Nach dem Putsch im Sommer berief sich Präsident Erdoğan auf die Demokratie. Er instrumentalisierte sie und begründete dabei ein äußerst hässliches Prinzip der Machtverteilung: das Prinzip "Winner Crushes All". Wer als Sieger aus dem demokratischen Prozess hervorgeht, darf die Opposition zerstören. Dieser Prozess erinnert an die Duelle in amerikanischen Western.

Erdoğan schuf kollektive Mordgelüste, die er nun nicht mehr kontrollieren kann

Die Türkei ist ein Musterbeispiel für ein Land, das miserabel auf eine Krise wie den Putsch vorbereitet ist. Es gibt eine Führung, deren klare Sicht durch das Streben nach absoluter Macht vernebelt wird. Bewusst arbeitet sie mit Infamie und Bösartigkeit. Dadurch wird die in einen kollektiven Wahn versetzte Gesellschaft mobilisiert. Und umgekehrt bringt diese radikalisierte Gesellschaft die Staatsführung dazu, eine Torheit nach der anderen zu begehen. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung sind die aggressiven Massen, welche die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern. Erst wurden sie vom Präsidenten aufgehetzt, und dann gelingt es nicht mehr, die Spirale aufzuhalten, die er in Gang gebracht hat. Diese kollektiven Mordgelüste sind nur ein Beispiel. 2016 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der türkische Rechtsstaat beerdigt wurde. Die Führung betrachtet ihn nunmehr nur noch als überflüssig. Besonders gravierend ist es vor allem in jungen Demokratien, die noch nicht so fest etabliert sind, in denen der Geist der Freiheit noch mit vielen sozialen Segmenten in Konflikten steht, die blinde Intoleranz befürworten. Die Opfer in diesem Falle sind einerseits diejenigen, die nach der Wahrheit suchen und sie öffentlich äußern wollen, die Intellektuellen. Andererseits sind es die Unterprivilegierten der Gesellschaft wie zum Beispiel Minderheiten.

2016 zeigte, wie apathisch große Teile der türkischen Elite waren

Vor einigen Tagen wurde Fatma Alpay und ihrer Tochter Elvan Alpay mitgeteilt, dass der Strom in ihrer Wohnung nach dem Ablauf einer kurzen Frist abgeschaltet wird. Der Grund? Fatma Alpays Vater ist seit fast fünf Monaten im Gefängnis. Er ist eine der wichtigsten liberalen Stimmen des Landes. Er führte gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung verschiedene Projekte zu Demokratie und Pressefreiheit durch. Dieser gebrechliche 73-jährige Publizist und Akademiker wird bezichtigt, sich an terroristischen Umtrieben beteiligt zu haben. In der letzten Woche wurden seine Besitztümer und Bankkonten gepfändet. Das alles, obwohl ein Urteil gegen ihn eigentlich nie zustande kommen könnte. Auch Alpays Frau ist es nicht erlaubt, Geld vom Konto abzuheben, obwohl das Konto auch auf ihren Namen läuft.

Dieselbe Pfändung betraf noch 53 andere Intellektuelle, darunter den international bekannten Dichter und Philosophen Hilmi Yavuz. Weiteres Salz wurde in die Wunden gestreut, indem auch die Auszahlungen der Rente plötzlich blockiert wurden. Auch die Familien der Verhafteten werden Grausamkeiten ausgesetzt. Ich sprach mit einem Menschenrechtsanwalt. "Die Pfändungen sind das eine", sagt er. "Ich gehe davon aus, dass die Staatsanwälte sehr lange Haftstrafen für die eingesperrten Intellektuellen fordern werden. Ich hoffe, ich liege falsch."

Einigen Berichten zufolge wurden Reporter der Tageszeitung Cumhuriyet tagelang in Gewahrsam gehalten, wo es keine Heizung gab. Einer von ihnen, Kadri Gürsel, der auch die Türkei im International Press Institute vertritt, bat seine Frau, ihm einen Mantel mitzubringen. Das wurde ihr nicht erlaubt. Als Begründung hieß es, das "entspricht nicht den Standards".

Türkische Journalisten verschicken gerade Neujahrs-Grußkarten an ihre eingesperrten Kollegen. Dabei erfuhren sie, dass es verboten ist, Karten an Ahmet Altan, den ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Taraf, und an seinen Bruder Mehmet Altan, einen Professor und Publizisten, zu verschicken. Zuletzt wurden fünf Journalisten eingesperrt, die angeblich Teil einer Hackerbande sind. Diese soll auf E-Mails des Energieministers Berat Albayrak, der zugleich Erdoğans Schwiegersohn ist, zugegriffen haben. Gestern wurde der Journalist Ahmet Şık verhaftet. Er saß schon zwischen 2011 und 2012 im Gefängnis wegen eines Buches, indem er die Infiltrierung des Staates durch Gülenisten dokumentierte. Zuletzt versuchte er, die Hintergründe des Putschversuches zu ermitteln recherchierte zum Anschlag auf den russischen Botschafter Karlow. Die Freilassung der Schriftstellerinnen Aslı Erdoğan und Necmiye Alpay sind daher nur begrenzt gute Nachrichten. Die Zahl der inhaftierten Journalisten beträgt nun somit 152. Das sind rund 60 Prozent aller Journalisten weltweit, die zurzeit in Haft sind.

Ein Mann denunzierte eine Frau als Terroristin, nachdem sie seinen Heiratsantrag ablehnte

Der Leiter der Cafeteria bei Cumhuriyet kam vor einigen Tagen zu spät zur Arbeit. Jemand vom Sicherheitspersonal fragte, warum. Der Mann sagte, er habe so lange nach einem Parkplatz suchen müssen. Da Präsident Erdoğan an einer Veranstaltung in der Nähe teilnahm, waren etliche Straßen gesperrt. Die Wache versuchte einen Scherz: "Wenn er hier vorbeikommt, kannst du ihm ja einen Tee servieren." Der Betreiber der Cafeteria antwortete: "Das kommt nicht infrage." Wenige Stunden später wurde er dafür verhaftet.

Aus Izmir wird berichtet, wie ein Mann einer Frau einen Heiratsantrag machte. Sie lehnte ab, woraufhin er zur Polizei ging und behauptete, dass sie eine gülenistische Terroristin sei. Zwei Wissenschaftler der Turgut-Özal-Universität wurden kürzlich an der griechischen Grenze festgenommen. Sie versuchten, das Land zu verlassen. Es war ihr nächster Verwandter, der die Polizei zuvor über den Fluchtversuch informierte. Das sind Geschichten, die zeigen, wie die Menschen seelisch verderben. Und es erinnert stark an das, was in früheren Diktaturen passierte.

2016 zeigte auch, wie apathisch und unsensibel große Teile der türkischen Elite waren, als der Autoritarismus sich mit aller Kraft entfaltete. Eines der jüngsten Opfer der Verhaftungswelle ist Professor Iştar Gözaydın, ein Religionssoziologe, Experte bei der staatlichen Religionsbehörde Diyanet. Keine einzige Stimme des Protests war aus den Reihen der Wissenschaftler zu vernehmen. Angst und Einschüchterung erreichen gerade einen Zenit. Meine Hoffnung für 2017 ist, dass wir unsere Kraft bewahren und weiter für Menschenwürde und Freiheit kämpfen. Das wird mehr gesunden Menschenverstand und Resilienz verlangen als jemals zuvor. Nicht nur in der Türkei, überall.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P 24. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Lukas Latz.

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