Höflichkeit:Die Rückkehr des Gentleman

'Snowden' Press Conference - 64th San Sebastian Film Festival

Galant ja, aber ohne Hintergedanken und trotzdem cool: Schauspieler Joseph Gordon-Levitt geht Kollegin Shailene Woodley beim Filmfestival von San Sebastian zur Hand

(Foto: Juan Naharro Gimenez/Bildbearbeitung: SZ.de)

Küss die Hand! Populistischer Unflat und rohe Muskelspiele werden gerade salonfähig. In solchen Zeiten besteht dringender Bedarf an einem neuen, zivilisierten Männervorbild: dem Gentleman.

Von Max Scharnigg

Der erste Beweis ist schnell geführt. "Er ist ein Gentleman", sagte Melania Trump zur Verteidigung ihres Mannes auf dem Höhepunkt seiner "Pussygrab"-Affäre im vergangenen Herbst. Nun, das ist Trump aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Ein Mann, der 70 Jahre alt wird, ohne dass eine nennenswerte, uneigennützige Wohltat oder auch nur außerordentliche Höflichkeit von ihm überliefert ist, kann ein guter Unternehmer, auch ein solider Mensch und möglicherweise sogar ein Präsident sein. Aber kein Gentleman.

Offenbar herrscht also Unklarheit über die Bedeutung des Begriffs, was nicht verwunderlich ist. Er kommt aus einer Schublade, die etwas Staub angesetzt hat und in der auch die alten Figuren Snob und Dandy liegen, vielleicht auch noch die ältlichen Bonvivants und Privatiers. Geht es nach dem Klischee, hat der Gentleman von all diesen oberflächlichen Rollen das beste Korn in sich. Seine herausragende Eigenschaft aber ist keine äußere, sondern eine verinnerlichte - eine souveräne Haltung gegenüber der ganzen Welt und eine grundsätzliche Freundlichkeit gegen jedermann, ohne Ansehen der Person und gleich in welcher Situation.

Über den verstorbenen Roger Willemsen war in einem Nachruf zu lesen, dass er die Fähigkeit hatte, jedem, den er traf, mühelos ein gutes Gefühl mit auf den Weg zu geben. Er hatte für jeden sozusagen ein eigenes, verschwörerisches Zublinzeln übrig. Wer einem fremden Menschen, ohne es zu müssen, einen solchen kurzen Glücks-, Wärme- oder Trostmoment verschafft, hat schon sehr nah am Gentleman gebaut. Man kann diese Gabe trainieren, einfacher ist es, sie früh anerzogen oder vorgelebt zu bekommen.

Deswegen wohl wird der Gentleman auch so häufig in der Nähe der Aristokratie vermutet, weil dort in der Erziehung gemeinhin noch mehr Wert auf sauberen Umgang mit Menschen und zumal solchen aus anderen Schichten gelegt wird. Es zeichnete einen Gutsherrn schließlich seit jeher aus (und war ökonomisch wichtig), wenn er mit den Menschen im Dorf, den Bauern und Politikern sprechen konnte, ohne dabei unter Dünkelverdacht zu geraten. Die Freundlichkeit des wahren Gentleman, der natürlich ebenso ein Taxifahrer oder Hoteldirektor sein kann, geht noch weiter: Sie ist absichtslos und steht nicht im Dienst einer Geschäftstüchtigkeit, eines Flirts oder einer Verhandlung.

Als zwischenmenschlicher Diplomat ist er jederzeit auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit bedacht, er tritt niemals dominant auf, ist nicht nachtragend, spricht ungern über sich und bleibt am liebsten unauffällig, ohne dabei schüchtern zu sein. Er beherrscht die Kunst der verstellbaren Augenhöhe, auf der er sich mit jedem treffen kann.

Auch das spricht übrigens alles gegen einen Gentleman Trump und für seinen Amtsvorgänger. Eine oft zitierte Definition stammt von dem Autor John Henry Newman, nach der ein Gentleman insgesamt jemand sei "der niemals Schmerz zufügt".

Gerade im Netz sind kontrollierte Menschen gefragt

Heute aber hat der Gentleman vielleicht ein Update nötig. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, er wäre nur noch eine Kostümrolle aus einem Schwarz-Weiß-Film. Nein, gerade in einer Zeit, in der Rüpelei und Beleidigtsein, populistische Unflat und rohe Muskelspiele wieder zu den Stilmitteln gehören, besteht dringender Bedarf an einem zivilisierten Männerbild. Denn der Gentleman ist mit seiner Haltung und seiner wohlwollenden Klarsicht auch immer Inbegriff der Kultiviertheit und Zierde seiner Zeit. Aber was würde ihn in der Gegenwart auszeichnen?

Zwei Punkte irritieren heute am klassischen Gentleman. Er ist zum einen sehr analog, zum anderen sehr heteronormativ und geschlechtsfixiert. Den Mann trägt er nun ja schon im Namen, es wäre aber angebracht, darüber nachzudenken, ob der Gentleman nicht auch eine Frauenrolle sein könnte, oder noch eher: eine UnisexLebensart. Dagegen ist nichts einzuwenden, wäre da nicht der leise Verdacht, dass viele Gentleman-Eigenschaften an Frauen ohnehin als normale Wesenszüge gelten. Das sanfte, sozial-emotionale, intelligente Wesen, dem grundsätzliche an Harmonie und Respekt gegenüber jeder Kreatur gelegen ist und das sich nicht immer in den Mittelpunkt spielen will? Klingt nach Klischee-Frau. Erst am Hetero-Manne scheint diese Ausstattung zu kontrastieren und damit bemerkenswert. Seit das andere Geschlecht nicht mehr beschützt werden muss, fällt zudem ein prominentes Aufgabengebiet weg. Zum Türaufhalten reicht ein Galan, damit ist ein Gentleman unterfordert.

Gelassene Distanz zum Weltirrsinn

Vermutlich enthielt der Gentleman auch schon immer Spuren eines Feministen. Schließlich: Ungerechtigkeit und vorgefertigte Meinungen sind ihm unerträglich, ebenso allzu herrisches Auftreten. Darauf könnte er jetzt aufbauen, brauchbare role models wie der kanadische Premier Justin Trudeau oder der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch machen es vor: offensives Bekennen zum Feminismus, bei gleichzeitiger Wahrung einer männlicher Note. Modern ist ein Mann, der sich seiner Maskulinität so sicher ist, dass er problemlos hinter einer Frau zurücktreten kann. Der sich, im Gegensatz zu amtierenden Alphamännchen, nicht zu ernst nimmt und dem man die Gleichberechtigung deshalb nicht abtrotzen muss, der sie vielmehr uneitel und schon aus Solidarität unter Menschen praktiziert, ohne weiteres Aufhebens darum zu machen.

Das ist aber kein Plädoyer für einen schwachen, eingeschüchterten Mann, im Gegenteil - gerade der Gentleman war immer ein brillantes Beispiel dafür, wie man auch in freundlicher Zurücknahme Würde behalten und Stärke ausstrahlen kann. Was der Dandy nur mit Putz und Dekadenz, der Snob nur mit seinem Geld und Extravaganz schafft, vermag der Gentleman schließlich ganz aus sich heraus: zu glänzen. Der Philosoph Martin Scherer schreibt in seinem Standardwerk "Der Gentleman" über ihn: "Das Weniger an Selbstdarstellung bedeutet ein mehr an Offenheit und Entspanntheit." Na, das wäre doch genau die wünschenswerte Entwicklung im feministischen Diskurs, und zwar auf beiden Seiten!

Exemplarisch vertritt vielleicht der amerikanische Schauspieler Joseph Gordon-Levitt diesen neuen Mann. In einer Talkshow gefragt, ob er sich als Feminist fühle, antwortete Gordon-Levitt, dass er sich zwar nicht besonders gut auskenne, aber schlicht nicht einsehe, dass das Geschlecht definieren soll, wer man ist oder sein soll. Kluges Understatement (seine Mutter war aktive Feministin) und Offenheit gegenüber allen Lebensformen, das macht den Gentleman in dieser Hochphase des Pluralismus aus. Er ist nicht mehr Solitär einer maskulinen Welt, sondern definiert sich auch über seine Position zum Weiblichen.

Was das allzu Analoge angeht, so entspringt es wohl vor allem den romantischen Vorstellungen, die sich mit dem Wort Gentleman einstellen - der verschmitzte Portier im Grand Hotel oder Peter Ustinov im Schaufelraddampfer auf dem Nil, das sind Ansichten aus dem Gentleman-Bilderbuch. Dabei ist er in der digitalen Welt nicht nur genauso denkbar, sondern umso dringender vonnöten. Schließlich gehört angemessene Kommunikation zu seinen Talenten und die Contenance, die ihn auch angesichts ungeheuerlicher Vorgänge einen kühlen Kopf und sämtliche Manieren behalten lässt. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und intellektuellen Gefasstheit sind gerade im Netz gefragt, wo sich unentwegt Fronten bilden und Ansichten kollidieren. Der Webvordenker und Publizist Sascha Lobo entspricht mit seinem roten Irokesenhaarschnitt vielleicht nicht dem romantischen Phänotyp des Gentlemans. Aber er hat es in der vergangenen Woche geschafft, als solcher eine Netzdiskussion zu moderieren, die sonst in üblicher Kinnhakenmanier geführt worden wäre.

Lobo gelang es auf Facebook, unter seiner Einlassung zur "Nafri"-Debatte alle Lager miteinander ins Gespräch zu bringen, Schreiern und Störern entgegenzukommen und sie einzubinden, gleichzeitig allzu selbstgefällige Seilschaften zu lockern. Seine Waffe der Wahl war eine freundliche und respektvolle Sprache, die jeden einfing. Ein enormer Aufwand, der eines zeigte: Das Netz müsste nicht ein Jahrmarkt der niederen Instinkte sein, gäbe es nur genug Engagement für Kultiviertheit und gelassenen Umgang miteinander.

Ein weiteres Talent macht den Gentleman in der neuen Welt erst recht überlebensfähig: Ironie. Der Philosoph Martin Scherer erkennt sie als eines seiner wichtigsten Merkmale und notiert dazu: "Ironie entsteht aus der Überzeugung, dass es nichts ist mit der einen Wahrheit und gestanzten Lebensnorm für alle. (...) Wenn der Zynismus eine Attitüde der Macht ist, dann ist die Ironie ein Signal der Humanität. Jeder Gentleman zuckt zusammen bei Kaltblütigkeit, aggressiven Parolen oder schneidigen Thesen mit Absolutheitsanspruch."

Die wichtigste Eigenschaft des Gentleman: Weltgewandtheit

Schon deshalb gehört ein Gentleman heute in jedes Kabinett. Ironie bedeutet auch immer Zulassenkönnen und ist damit eben kein Dogma. Der Gentleman ist deswegen auch nicht jener von Parolen verunstaltete "Gutmensch", dem in seiner ewigen Mildheit angeblich das praktische Maß fehlt. Nein, gerade eine gewisse moralische Großzügigkeit, das Wissen um die ewige Unperfektheit aller Pläne und Systeme und eine kleine Neigung zum Ungehorsam im richtigen Moment - das ist die unwiderstehliche Ironie des Gentleman.

Diese gelassene Distanz zum Weltirrsinn entsteht übrigens wie seit jeher durch Reisen, durch Flanieren, Studieren und waches und geneigtes Beobachten der Umwelt. Vielleicht ist das die wichtigste Eigenschaft des modernen Gentleman: eine echte Weltgewandtheit. Eine, die sich aus der neuen digitalen und alten analogen Welt gleichermaßen speist und ihn in die Lage versetzt, seine Entscheidungen auf Grundlage des eigenen Wissens und einer gereiften Erfahrung zu treffen. Und damit nicht auf eine postfaktische Wirklichkeit vertrauen zu müssen, in der ein Rüpel umstandslos zum Gentleman verklärt wird.

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