Porträt:Yusra Mardini - globales Gesicht der Flüchtlingskrise

Refugee Swimmer Yusra Mardini - Photocall

Das Wasser, das beinahe ihren Tod bedeutet hätte, ist ihr Element geblieben: Die 18-jährige Yusra Mardini im Schwimmbecken des Berliner Olympiaparks.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Weil das Mädchen sehr gut schwimmt, erreicht es bei der Flucht übers Meer das rettende Ufer. Seitdem muss die junge Syrerin mit ihrer Berühmtheit leben. Wie geht sie damit um?

Von Verena Mayer, Berlin

Sie muss gleich ins kalte Wasser springen. Yusra Mardini steigt so schnell auf den Startblock, als könne sie es nicht erwarten, einzutauchen und das zu tun, was sie immer tut: 800 Meter kraulen. Schwimmhalle im Europapark in Berlin, Mardini nimmt an den Deutschen Kurzbahnmeisterschaften teil. Gerade sind die Zehn- bis 18-Jährigen dran, sie zupfen ihre Badekappen zurecht und rudern mit den Armen, um locker zu werden. Am Beckenrand wuseln Trainer hin und her, oben auf der Tribüne sitzen überhitzte Eltern und feuern ihre Kinder an. Das schnarrende Startsignal ertönt, Mardini springt. Alltag im Leben einer jungen Sportlerin.

Doch an Yusra Mardini ist nichts alltäglich. Im Sommer 2015 floh die Schwimmerin aus Syrien, da war sie 17. Sie stieg an der türkischen Küste in ein Schlauchboot, um nach Griechenland zu gelangen, damals die typische Fluchtroute. Plötzlich fiel der Motor aus, Wasser lief in das Boot, in dem zwanzig Leute saßen. Mardini, ihre ältere Schwester, die ebenfalls Schwimmerin ist, und zwei junge Männer sprangen ins Meer - und hielten das Boot schwimmend und strampelnd über Wasser, bis die Küste von Lesbos in Sicht war.

Damit ist die Geschichte allerdings nicht zu Ende. Wäre sie eine dieser Klickstrecken im Internet, würde man sie so betiteln: "Eine junge Syrerin bewahrte ihr Flüchtlingsboot vor dem Sinken. Was danach geschah, ist vollkommen unglaublich." Denn kaum ein Jahr später trat Mardini bei den Olympischen Spielen in Rio an. Sie wurde von Barack Obama empfangen und vom Papst, das Time-Magazin setzte sie auf ihre Liste der einflussreichsten Teenager der Welt. Mit gerade mal 18 Jahren ist Yusra Mardini zum globalen Gesicht der Flüchtlingskrise geworden. Das Symbol dafür, wie man das Schlimmste erleben und doch das Beste daraus machen kann.

Wie geht man um mit dieser Berühmtheit? Was erlebt ein Mädchen, das sich von einem Tag auf den anderen mit einer beispiellosen Welle von Aufmerksamkeit konfrontiert sieht?

Der US-Präsident fand sie cool: "Er hat gesagt, ich soll stark sein"

Yusra Mardini zu treffen, ist nicht einfach. Sie geht auf eine Berliner Oberschule, jeden Tag ist sie vier bis sechs Stunden in ihrem Schwimmverein, zieht Bahnen, macht Krafttraining. Die anderen Termine sind da noch nicht eingerechnet, Auftritte als Schirmherrin, Reden bei Veranstaltungen, Reisen nach Rom zu einer Papst-Audienz oder zur Uno nach New York. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat Mardini gerade zu einem "High Profile Supporter" ernannt, um auf das Schicksal der 65 Millionen Flüchtlinge weltweit aufmerksam zu machen. Eine Position, die sonst noch Hollywood-Schauspieler wie Ben Stiller oder der Serienstar Kat Graham innehaben.

An einem trüben Dezembernachmittag sitzt Mardini nun in der Gaststätte ihres Schwimmvereins hinter dem Berliner Olympiastadion. Ihr Trainer hat mehrere Journalisten zu einem Gruppeninterview geladen, mehr Zeit ist nicht. Mardini kommt gerade vom Schwimmen, sie trägt Jeans und Hoodie, ihr Smartphone hat sie unter dem Tisch zwischen die Oberschenkel geklemmt. Als wolle sie keine Sekunde lang den Kontakt zu ihrem Telefon verlieren. Auch sonst wirkt Mardini wie eine typische 18-Jährige. Wenn sie redet, weiß man nie, ob sie schüchtern oder genervt ist, dazwischen checkt sie verstohlen ihre Handy-Nachrichten. Sie sagt, dass sie Obama "cool" fand, als sie ihn beim UN-Flüchtlingsgipfel in New York traf. "Er hat gesagt, ich soll stark sein und meine Ziele verfolgen." Und Mardini erzählt, wie es bei den Olympischen Spielen war, zwischen all den Stars, und sie wusste, gleich würde sie in dasselbe Wasser springen wie Michael Phelps. "Als ich am Startblock stand, hatte ich große Angst, nicht gut zu sein. Aber dann dachte ich: Wer schafft es schon von einem Flüchtlingsboot zu den Olympischen Spielen?"

Ihr Trainer muss jetzt mit der Welle zurechtkommen, die er ausgelöst hat

Sie guckt zu ihrem Trainer, der neben ihr sitzt. Sven Spannekrebs, dunkler Trainingsanzug, schütteres Haar, wirkt müde. Er arbeitet für den Berliner Verein Wasserfreunde Spandau 04, eines Tages fragten ihn Leute aus einer Berliner Flüchtlingsunterkunft, ob eine Schwimmerin aus Syrien bei ihm vorbeikommen könne. Er ließ Mardini in einer Gruppe mitschwimmen, es imponierte ihm, wie ehrgeizig sie war und wie bedacht darauf, sich nicht abhängen zu lassen. Irgendwann hörte er, dass das Olympische Komitee eine Mannschaft mit Flüchtlingen aus aller Welt zusammenstellen wollte, eine Art olympische Willkommensklasse gewissermaßen. Spannekrebs schrieb eine E-Mail an die Verantwortlichen, in der er von der syrischen Schwimmerin und ihrer Flucht über das Meer erzählte. Ein Sprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes kann sich noch gut daran erinnern, wie er das erste Mal von der Geschichte hörte. "Ich wusste sofort: Die Amerikaner werden ausflippen."

Das taten sie, und seither versucht Spannekrebs, mit der Welle zurechtzukommen, die er ausgelöst hat. Beim ersten Pressegespräch im März drängten sich 120 Journalisten aus aller Welt zusammen, um die 18-Jährige zu sehen, danach gab es noch mal 500 Anfragen. Spannekrebs bekommt Angebote von Firmen und Fernsehsendern aus aller Welt, von Stiftungen, Sponsoren, Schulen, Universitäten, und in Hollywood wollen sie einen Film aus Mardinis Leben machen. Und immer mal wieder taucht jemand im Schwimmbad des Vereins auf und sagt etwas wie: "Ich bin Journalist aus Tokio, wo ist Yusra?"

"Ich weiß, dass ich eine Verantwortung habe"

Früher hat Spannekrebs seine Zeit damit verbracht, Jugendlichen die optimale Wasserlage beizubringen, und sein größtes Problem waren nervige Eltern, die glauben, immer alles besser zu wissen. "Jetzt muss ich mich auch fragen: Soll ich Yusra lieber Charity machen lassen oder sie bei Markus Lanz platzieren?" Dazwischen geht er mit Mardini und ihrer Schwester aufs Amt oder schraubt für sie Ikea-Regale zusammen. Obwohl Mardinis Eltern ebenfalls in Berlin leben, ist Spannekrebs eine Art Bruderfigur für sie. Warum tut er das, noch dazu in seiner Freizeit? Aus Idealismus, sagt Spannekrebs, "ich wollte einfach zwei Mädels helfen, hier anzukommen". Und in der Hoffnung, bei etwas Historischem dabei zu sein, vielleicht auch. "In 20 Jahren wird das Flüchtlingsteam in den Büchern der Sportgeschichte stehen."

Leute, die bei den Spielen in Rio waren, erzählen, wie Mardini von einem Event zum anderen geschleppt wurde, vom Händeschütteln mit Funktionären zum Fotoshooting auf dem Corcovado, und dazwischen wurde sie, kaum dass sie aus dem Becken geklettert war, von unzähligen Journalisten belagert. In Zeiten, in denen der internationale Spitzensport vor allem mit Doping, Korruption und anderen Skandalen in den Schlagzeilen war, kam das Mädchen mit den rehbraunen Augen und der süßen Lücke zwischen den Schneidezähnen vielen gerade recht, um die Botschaft von der Kraft des Sports in die Welt zu tragen. Dass er ein Lebensziel sein kann, auch wenn man alles andere verloren hat. Das sei schon alles sehr viel gewesen, sagt Mardini heute. Sie schwamm nicht gut, kam auf einen 40. und 45. Platz, auf den 100 Metern Kraul war nur eine Schwimmerin aus den Malediven schlechter als sie.

Mardini guckt aus dem Fenster, auf die monumentalen grauen Klötze, die das Berliner Olympiastadion säumen, Anlagen, die vom Größenwahn einer Diktatur erzählen. Glaubt sie denn, dass der Sport etwas bewirken, Hoffnung oder gar Frieden stiften kann? "Ja", sagt Mardini. "In Russland, China oder den USA passiert politisch viel Scheiß, aber dann geht man ins olympische Dorf und sieht einen russischen, syrischen und deutschen Athleten, wie sie Spaß mit einem Australier haben, und alle sagen, wir sind Freunde."

Oft werde sie gefragt, ob sie sich wie in einem Traum vorkomme mit all der Bekanntheit und dem Glamour. "Ja, aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich weiß, dass ich eine Verantwortung habe, weil nicht alle so verdammtes Glück hatten wie ich. Damit muss ich leben." Sie sagt das schnell und in ihrem amerikanisch gefärbten Englisch, aber sie wirkt plötzlich erwachsen, fast schwermütig.

Sie kann inzwischen etwas Deutsch, die 18-Jährige geht in die neunte Klasse. Was ihr liebstes deutsches Wort sei, fragt ein Journalist. "'Wasser'?", schlägt ihr Trainer vor. Mardini denkt nach und sagt schließlich, ihr falle jetzt nur "du Opfer" ein, denn das würden alle auf dem Schulhof sagen. Der Trainer wirft ihr einen strengen Blick zu, Mardini kichert verlegen. Man spürt ihre Angst, etwas falsch zu machen.

Das Schönste am Schwimmen ist der Moment, wenn man kopfüber ins Wasser gesprungen ist und einige Meter lang taucht. Man gleitet dahin wie schwerelos, und rundherum ist es still. Selten ist man so weit weg von allem und so für sich wie auf diesen paar Metern. Mardini wirkt manchmal, als würde sie gern in diesem Zustand verharren. Einfach mal von der Bildfläche verschwinden, nicht immer Projektionsfigur sein müssen, als Jugendliche, Sportlerin, globaler Vorzeigeflüchtling.

Doch sie macht weiter. Berlin, Potsdamer Platz im November, der Fernsehpreis Bambi wird verliehen. Scheinwerfer, roter Teppich, eine dieser Veranstaltungen, bei denen eine Branche sich selbst feiert. Leute wie Robbie Williams, Bastian Schweinsteiger oder Jogi Löw steigen aus den Limousinen und machen Selfies mit ihren Fans, später wird man sich zwischen Magnumflaschen Champagner die Kante geben. Dazwischen stehen Yusra Mardini und ihre Schwester Sarah, die einen Bambi in der Kategorie "Stille Helden" erhalten sollen. Yusra Mardini trägt ein langes taubenblaues Kleid und Ohrringe, das lange Haar hat sie hochgesteckt. Man merkt, dass es nicht ihre Welt ist, als sie vor die versammelte deutsche Showbranche tritt. Doch sie bedankt sich, aufrecht und artig wie immer, und sagt: "Damals hätten wir nicht gedacht, dass wir heute hier stehen würden."

In vier Jahren will sie zu Olympia nach Tokio

Ihre Schwester musste das Schwimmen wegen einer Verletzung aufgeben, sie lebt nun in Griechenland und arbeitet als Freiwillige an der Küste, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren. Mardini sagt, sie habe das Meer nach ihrer Flucht erst mal gehasst. Doch das Wasser, das fast ihren Tod bedeutet hätte, ist ihr Element geblieben, in vier Jahren will sie es zu den Olympischen Spielen nach Tokio schaffen. Ob als Syrerin, Deutsche oder als Flüchtling, sei ihr egal.

Leicht wird das nicht. Zwar schwimmt sie inzwischen schneller als zu ihren besten Zeiten in Damaskus, wo ihr Vater sie schon mit drei Jahren zu trainieren begann, 800 Meter Kraul in neun Minuten 27. Doch ihr Körper ist für eine Schwimmerin sehr zart, ihre Grundlagen hat sie durch den Krieg und die Flucht verloren. Dazu kommt viel deutscher Vereinsalltag. Neid, Eifersüchteleien, Leute, die genervt sind vom ständigen Medienrummel.

Inzwischen sei es besser, sagt Mardini. Es ist Anfang Dezember, sie steht in Sportschuhen und Jogginghose in einer Turnhalle in Berlin-Spandau. Mardini ist für ein Programm des Berliner Senats hier, das Grundschulkinder für Sport begeistern soll, einer ihrer vielen ehrenamtlichen Termine. Jungs und Mädchen, denen man ansieht, dass sie sich sonst nicht viel bewegen, tollen zwischen Bänken und Bällen herum. Es ist der Tag, an dem die Stadt Aleppo erobert wird, die Medien sind voll mit Bildern von zerbombten Häuserschluchten und fliehenden Menschen. Mardini sagt, sie weine oft, wenn sie an Syrien denke, viele aus ihrer Familie und ihre Freunde sind noch immer dort. Einmal war sie so mitgenommen von den Nachrichten, dass sie nicht schwimmen konnte. Psychologische Hilfe habe sie nicht in Anspruch genommen, sagt sie und wechselt das Thema. Man merkt, dass sie keine Schwäche zeigen will.

Mardini rennt los, als könne sie es nicht erwarten, sich endlich wieder zu bewegen. Bindet sich einen Korb auf den Rücken, in den die Kinder Bälle einwerfen, spielt mit ihnen Fangen, lässt sich knuddeln. Sie lacht viel und wirkt gelöst, ganz in ihrem Element. Eine Schülerin, der man ansieht, dass sie am liebsten ein normaler Teenager geblieben wäre.

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