Kanzlerkandidatur:Martin Schulz - feinfühliger Polit-Berserker

Er war ein Abgestürzter, der sich selbst aus dem Sumpf zog. Heute ist der SPD-Kanzlerkandidat ein sensibler Vollblutpolitiker, der den Streit liebt.

Porträt von Stefan Ulrich

Deutschland darf sich auf einen munteren Wahlkampf freuen. Denn Martin Schulz, der Spitzenkandidat der SPD, ist von vulkanischer Natur: wuchtig, raumgreifend, grollend und jederzeit zu einem Temperamentsausbruch bereit, nur um kurz darauf wieder den friedlichen Riesen zu geben, der ruhig und souverän über die Weltläufe plaudert, über Kunst, Literatur, Philosophie und Geschichte, bevor er zum nächsten Ausbruch hochkocht. Zwischendrin sitzt er im Fonds seines Dienstwagens, um sich zu erholen, während er französische Chansons schmettert oder, vielleicht noch lieber, auf seinen Gesprächspartner einplaudert, als gäbe es kein Morgen.

Fragt man ihn dann, noch in seiner Zeit als Europaparlamentspräsident, was für ein Europa er wolle, so antwortet er: "Na - ein Europa, das von Martin Schulz geführt wird." Natürlich ist das Spaß. Aber nur ein bisschen.

Der 61 Jahre alte Mann mit dem bartumrundeten Gesicht unter blankem Schädel, den vollen Lippen und dem spöttisch-angriffslustigen Blick scheint es zu lieben, von Stadt zu Stadt zu rasen, von Wahlkampfauftritt zu Podiumsdiskussion, von Interview zu Demonstrationsmarsch. Er steht gern im Rampenlicht, badet hingebungsvoll in der Menge, schlägt auf Schultern und lässt sich betatschen. Würde er sagen: "Ich mag Menschen", so nähme man es ihm glatt ab. Doch so platt redet Schulz nicht daher. Lieber sagt er schalkhaft aufrichtig: "Durch anständige Arbeit wird man in der Politik nicht bekannt. Da muss man schon einen Knaller landen."

Rastloses Leben als Spitzenpolitiker

Martin Schulz ist, kurzum, ein Vollblutpolitiker, der den Streit liebt, ohne ihn allzu persönlich zu nehmen, der poltern kann und räsonieren, provozieren und befrieden, je nachdem, ob er in einem Bierzelt spricht oder unter vier Augen. Man merkt es ihm an, wie sehr ihn dieses rastlose Leben als Spitzenpolitiker elektrisiert, wie freudig er sich ins nächste Gefecht stürzt. Schulz braucht niemand zum Jagen zu tragen, er stürmt von alleine los, nicht alle Genossen können da folgen. "Ich habe es mit ungeheurem Kraftaufwand geschafft, als Europapolitiker in Deutschland wahrgenommen zu werden", sagte er in seiner Aachener Sprachfärbung vor zweieinhalb Jahren im Europawahlkampf.

Von dieser Basis aus wird er jetzt in den deutschen Wahlkampf starten. Und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ihn bis zum Frühjahr wirklich jeder Bundesbürger kennt. Wer nun glaubt, es mit einem urgewaltigen Polit-Berserker zu tun zu bekommen, der irrt nur zur Hälfte. Der andere Schulz ist ein hoch sensibler Mann mit komplexer Herkunft, der das Auf und Ab des Schicksals drastischer erfahren hat als viele Zeitgenossen.

Väterlicherseits stammt er aus einer saarländisch-roten Bergarbeiterfamilie, mütterlicherseits aus einem christdemokratisch-großbürgerlichen Aachener Milieu. Eine interessante Mischung, die einen deutschen Europäer hervorgebracht hat, der als Deutscher - ohne irgendwie deplatziert zu wirken - eine Arbeiterdemonstration zum 1. Mai in Warschau anführen kann, nur um kurz darauf - ebenso wenig deplatziert - mit dem Polit-Adel in Paris und London zu verhandeln.

Schulz wirkt authentisch, genuin, vulgo echt

Diese zwei Standbeine, in der Arbeiterschaft und im Bürgertum, könnten zu seinem Trumpf werden. Ein weiterer kommt dazu: Martin Schulz wirkt authentisch, genuin, vulgo echt, selbst wenn er auf offener Bühne gern schauspielert. Wer ihn näher kennt, der spürt, dass ihm die Völkerfreundschaft in Europa wirklich eine Herzenssache ist. Im Ersten Weltkrieg kämpfte sein Großvater noch gegen seine eigenen Cousins. Schulz lebt als Politiker auch dafür, dass sich so etwas nie wiederholt.

Der Mann ist ehrgeizig und dezidiert machtbewusst, gewiss. Er kann ungestüm wirken, ja ungehobelt, doch das täuscht. Wer mit ihm in einer römischen Trattoria sitzt, um - bei coda alla vaccinara (Ochsenschwanz) und Rotwein, beziehungsweise, in seinem Fall, Fanta - den Tag ausklingen zu lassen, der erlebt einen Politiker von stupender Bildung, der sich ebenso geistvoll über sizilianische Literatur auslässt wie über die Geschichte des Baltikums.

Martin Schulz war einmal ein abgestürzter junger Mann im nordrhein-westfälischen Städtchen Würselen, der sich dann bei der Arbeit in einer Buchhandlung fing. Er zog sich, wie der Baron Münchhausen, an seinen Haaren selbst aus dem Sumpf. Dieser Traum lautet: vom Buchhändler zum Bundeskanzler. Oder, in seinen Worten: "Ich versuche, meine Stiefel abzuarbeiten - und dann schau mer mal, was zum Schluss rauskommt."

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