Chefermittler gegen NS-Verbrecher:"Wir konzentrieren uns auf das, was juristisch noch möglich ist"

Jens Rommel

Jens Rommel steht vor dem Karteikartenarchiv der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.

(Foto: dpa)

Wie spürt man noch lebende Naziverbrecher auf? Oberstaatsanwalt Jens Rommel über Mordermittlungen nach mehr als 70 Jahren und warum er die Digitalisierung von 1,7 Millionen Karteikarten für Zeitverschwendung hält.

Interview von Martin Anetzberger und Oliver Das Gupta

Oberstaatsanwalt Jens Rommel leitet seit 2015 die Behörde, die noch lebende Naziverbrecher aufspüren und vor Gericht bringen will. Die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg hat auch mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausreichend Arbeit.

Ende 2016 hat der Bundesgerichtshof das Urteil gegen den früheren SS-Mann Gröning bestätigt - und damit auch die Rechtsauffassung von Rommels Behörde. Demnach reicht es für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord aus, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt in einem Vernichtungs- und Konzentrationslager Dienst tat und um das Geschehen wusste. Einem Angeklagten muss nicht nachgewiesen werden, an Tötungen beteiligt gewesen zu sein.

SZ: Herr Rommel, das Urteil gegen den "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, ist rechtskräftig. Angenommen, die Richter hätten anders entschieden - hätten Sie Ihre Arbeit dann einstellen müssen?

Jens Rommel: Das kommt darauf an, inwiefern es anders ausgefallen wäre. Wäre das in die Richtung gegangen wie beim Auschwitz-Urteil von 1969, als man das Postulat hatte, man braucht einen konkreten Tatnachweis, dann wäre es äußerst schwierig geworden. Was an einem einzelnen Tag geschehen ist, wer was gemacht hat und wer im Einzelnen zu einer bestimmten Stunde zu Tode gekommen ist, das lässt sich kaum mehr aufklären.

Wie haben Sie sich nach dem Urteil gefühlt?

Sehr erleichtert. Wir haben uns natürlich gefragt, ob wir auf der richtigen Spur sind. Im Kern geht es ja darum, inwiefern sich der Einzelne in einem verbrecherischen System mitschuldig macht. Juristisch ist das ganz knifflig. Die Urteilsbegründung bestätigt unsere Sicht der Dinge: Das, was in Auschwitz und anderswo passiert ist, war ein Massenverbrechen. Ganz viele Leute - auf Opferseite wie auch auf damaliger staatlicher Seite - waren involviert. Diese Besonderheit anzuerkennen und dann umzusetzen ins Juristische, das ist eine große Leistung.

Wie geht es jetzt mit Ihren Ermittlungen weiter?

Unser Ansatz sieht so aus: Wir versuchen eine Tat zu beschreiben, die man als systematische Ermordung in einer festen Organisation kennzeichnen kann. Und wer sich dann in einer bestimmten Funktion an dieser Ermordung beteiligt, der macht sich schuldig. Das gilt nach unserer Auffassung nicht nur für die Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau und Majdanek. Wir prüfen jetzt ein Konzentrationslager nach dem anderen, ob wir dort so eine Phase einer systematischen Ermordung nachweisen können, im ersten Schritt - und dann, welches Personal in Betracht kommt. Wir haben Stutthof schon geprüft und letztes Jahr neun Verfahren an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben. Jetzt sind wir gerade bei Buchenwald, Ravensbrück, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen, Neuengamme - und schauen, ob es uns gelingt, so eine Haupttat zu belegen, die man auch dem Einzelnen vorwerfen kann.

Wie viel Personal haben Sie zur Verfügung?

Wir haben sechs Ermittler, das sind Richter und Staatsanwälte und noch ein Polizeibeamter, die aus den Ländern nach Ludwigsburg abgeordnet werden.

Sechs Ermittler, das ist nicht viel. Bräuchten Sie, gerade nach dem Gröning-Urteil, nicht mehr?

Jede Dienststelle wünscht sich natürlich mehr Personal. Es ist so: Wir fangen ja nicht bei null an und werden wohl dieses Jahr eine Stelle zusätzlich besetzen können.

Sie würden sich aber schon freuen, wenn es hieße, Sie bekommen doppelt so viele Stellen?

Dagegen würde keiner was sagen. Aber Sie müssen natürlich die Justiz insgesamt betrachten. Da ist es an ganz vielen Stellen sehr eng. Ich finde es eher erstaunlich, dass die Landesjustizminister 2015 gesagt haben, es wird im bisherigen Umfang weiterermittelt, obwohl die Taten so lange zurückliegen und die Erfolgsaussichten überschaubar sind. Das wird positiv wahrgenommen von Besuchern und Medien aus dem Ausland. Die Zeiten sind vorbei, als man den Eindruck hatte, man müsste die bundesdeutsche Justiz anschieben, damit etwas passiert.

Wie muss man sich Ihre Ermittlungen im Alltag vorstellen?

Die Tätigkeit unterscheidet sich ganz grundlegend von dem, was man sonst bei einer Staatsanwaltschaft macht. Wir können keine Spurensicherung am Tatort machen. Durchsuchungen sind nur beschränkt sinnvoll, DNA-Analyse, Telefonüberwachung, Bankauskünfte. Vieles, was man bei einem aktuellen Mordfall macht, hilft uns nicht weiter. Wir arbeiten sehr viel mit Akten, durchwühlen Archive und schauen, ob wir zusammenpuzzlen können, wer wann wo eingesetzt war. Das sind ganz kleine Splitter. Jemand wird nach Auschwitz versetzt oder von dort aus krankgemeldet. Dann müssen wir natürlich immer überprüfen, ob die Person noch lebt. Und das ist das Frustrierende: Über 95 Prozent kommen aufgrund des Geburtsjahrgangs nicht für weitere Ermittlungen in Betracht oder sind nachweislich schon verstorben.

Seit 1958 hat ihre Behörde 7500 Ermittlungsverfahren geführt. Diese werden nach dem Gröning-Urteil noch einmal abgeklopft. Wie gehen Sie vor?

Leider ist das Herz unserer Verknüpfung von Informationen nur auf Papier vorhanden. Diese Zentralkartei, die Personen, Orte und Einheiten miteinander verbindet, besteht aus 1,7 Millionen Karteikarten.

Das klingt sehr mühsam. Wie praktikabel ist dieses Prozedere?

Solange die Datenbank so sorgsam gepflegt wird, kommt man da auch zu Ergebnissen. Das ist bei einer digitalen Recherche ja auch nicht immer garantiert. Die Einheiten sind zum Beispiel unterschiedlich abgekürzt, bei Namen gibt es Tippfehler. Da kann man auf einer Karteikarte manchmal eine Information leichter finden, als es der Computer könnte.

Ist denn eine Digitalisierung geplant?

Es gibt immer wieder Überlegungen. Das Problem ist einerseits das Geld natürlich. Aber das würde man vielleicht zusammenbekommen. Aber die Karteikarten sind sehr unterschiedlich beschrieben. Einseitig, beidseitig, von Hand, mit der Maschine, die Felder sind nicht eindeutig belegt. Das in einer Weise zu digitalisieren, dass es nicht nur abfotografiert, sondern auch recherchierbar ist, wäre aufwendig. Diese 1,7 Millionen Karteikarten zu erfassen, dürfte lange dauern. In der Zeit können wir nicht weiter arbeiten. Und dafür ist uns jetzt die Zeit einfach zu schade, dass wir für einen relevanten Zeitraum sagen: "Jetzt machen wir gar nichts, bis die Daten da sind."

In der Vergangenheit hat die Zentrale Stelle immer wieder Listen mutmaßlicher NS-Verbrecher erstellt und dann gebündelt an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben. Ist eine neue Liste in Planung?

Nein, denn wir geben die Verfahren jetzt so schnell wie möglich an die Staatsanwaltschaften ab. Wir wollen einfach keine Zeit verlieren. Zuletzt haben wir drei neue Fälle weitergeleitet zu Wachpersonal in Auschwitz: Und zwar an die Staatsanwaltschaften in Oldenburg, in Gera und in Stuttgart. Es handelt sich um einfache SS-Wachleute, geboren in den Jahren 1922 und 1923.

"Bewusst dafür entschieden, dass Mord nicht verjähren soll"

In Detmold wurde im Juni 2016 ein weiterer SS-Mann aus Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen. Bei ihm ging der Tatvorwurf weiter als im Fall Gröning. Würden Sie uns das erklären?

Das Spannende an der Entscheidung in Detmold ist, dass die Richter die sogenannte "Vernichtung durch Arbeit" in die Verurteilung mit einbezogen haben. Die haben gesagt, auf der einen Seite haben wir unmenschliche Existenzbedingungen wie fehlende Unterkunft, fehlende Kleidung, fehlende Nahrung, miserable medizinische Versorgung bis hin zu medizinischen Versuchen. Und auf der anderen Seite mussten die Häftlinge härteste Zwangsarbeit leisten, die ihre Körper völlig auszehrte. Und das zusammen führte demnach dazu, dass die Entscheidungsträger in Kauf genommen oder sogar angestrebt haben, dass diese Menschen zu Tode kommen.

Das passierte nicht nur im Einzelfall, sondern systematisch.

Genau, deswegen sind die 8000 Menschen, die auf diese Weise in diesem bestimmten Zeitraum starben, mit in die Zahl der Opfer eingerechnet worden. Noch hat der BGH in dieser Sache aber nicht entschieden. Ein Schuldspruch würde den Kreis möglicher Beschuldigter erheblich weiter ziehen. Einfach weil diese unmenschlichen Bedingungen in anderen Situationen noch öfter auftauchten, als die direkte Tötung durch Genickschüsse und Gaskammern.

Wo hätten Sie noch mehr Anknüpfungspunkte für Ermittlungen?

Bei anderen Lagern wie Bergen-Belsen und Neuengamme spielte dieser Aspekt eine große Rolle. Da wird es aber zum Teil sehr unübersichtlich, weil man im Fall von Bergen-Belsen beispielsweise abklopfen muss, was hängt mit der Versorgungslage insgesamt zusammen: Wenn Sie jemandem den Vorwurf machen, dass er jemanden verhungern hat lassen, dann müssen Sie natürlich auch nachweisen, dass genügend Nahrung dagewesen wäre. Oder Sie stützen sich auf das Argument, dass man ihn dann nicht zur Arbeit zwingen darf, wenn man schon so wenig Nahrung hat. Was sehr interessant ist, dass wir Geschädigte haben, die sich noch an so einem Verfahren beteiligen könnten, weil einige zum Glück diese "Vernichtung durch Arbeit" überlebt haben.

Welchen Einfluss hat das Gröning-Urteil auf Ermittlungen gegen die sogenannten Einsatzgruppen, die hinter der Front mordeten?

Wir haben das aus zwei Gründen zunächst zurückgestellt und die Lager in den Fokus gerückt: In einem Lager ist das Vernichtungsgeschehen leichter nachzuweisen. Außerdem bestanden die Einsatzgruppen meist aus älteren Männern - die Erfolgsaussichten, noch einen lebenden Täter zu finden, sind leider ziemlich gering. Das ist auch der Grund, warum wir versuchen, mit einer Reise nach Buenos Aires in diesem Jahr die Ermittlungen in Argentinien zu beenden. Wir haben aus mühsamen Recherchen vor Ort zwar Namen mutmaßlicher NS-Verbrecher mitgebracht, mussten dann aber feststellen, dass diese bereits verstorben waren. Wir konzentrieren uns jetzt auf Beschuldigte in Deutschland.

Sie werden sicher oft gefragt, wie sinnvoll diese Verfahren gegen Menschen sind, die keine hohe Lebenserwartung mehr haben. Wie antworten Sie darauf?

Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, dass Mord, und ganz gezielt die NS-Morde, nicht verjähren sollen, und die Justiz nimmt diesen Auftrag bis zum Ende ernst. Ich finde es ganz wichtig, dass man das neben anderen Formen der Aufarbeitung auch mit juristischen Mitteln versucht, weil sich die deutsche Justiz dazu bekennen muss. Das waren nicht nur Verbrechen eines ungeheuren Ausmaßes, sondern vom Staat organisiert oder geduldet. Und deswegen meine ich auch, dass es staatliche Aufgabe ist, das mit diesen Mitteln aufzuklären. Das ist die juristische Seite.

Und welche Seite gibt es noch?

Die Bedeutung für die Opfer und deren Nachkommen. Sie können sich an den Verfahren als Zeugen und Nebenkläger beteiligen. Das Strafmaß scheint mir nicht so sehr im Vordergrund zu stehen, sondern die Aufklärung in diesem kommunikativen Prozess einer Hauptverhandlung und auch die Feststellung heute, dass es Unrecht war und dass auch der einzelne Beteiligte wenigstens einen kleinen Teil der Verantwortung trägt.

Haben Sie Ideen, was aus Ihrer Behörde und diesem Wissen nach Ende der Ermittlungen werden könnte?

Die Justizminister der Länder haben erklärt, dass sie Ludwigsburg als Stätte des Gedenkens, der Mahnung, der Aufklärung und der Forschung erhalten wollen. Wir haben das Bundesarchiv jetzt schon bei uns im Haus. Das kümmert sich auch um die Akteneinsicht, wenn ein Angehöriger zum Beispiel wissen möchte, was der Opa im Krieg gemacht hat. Vor Ort arbeitet auch eine Forschungsstelle der Universität Stuttgart, und einmal in der Woche ist ein Pädagoge da, der mit Schülern und Lehrern arbeitet. Die künftigen Säulen sind also schon angelegt: Konservieren des Bestandes, wissenschaftliches Erschließen und Vermittlung dieses Wissens. Aber wir konzentrieren uns jetzt, jedenfalls die nächsten Jahre, voll auf das, was juristisch noch möglich ist.

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