Kanada - Der Norden:Daunen, Gold und warme Gedanken

Lesezeit: 9 min

In Kanadas Norden ist es einen Großteil des Jahres kalt, sehr kalt. Und viele Monate ziemlich dunkel. Doch die kurzen Sommer reißen alles wieder raus.

Verena Wolff

In Kanada ist es kalt - vor allem im Norden des zweitgrößten Landes der Erde. Der allerdings ist dünn bevölkert. Etwa 90 Prozent der Kanadier leben nicht weiter als ein paar hundert Kilometer von der amerikanischen Grenze entfernt - je weiter nach Norden man kommt, um so wilder wird die Landschaft. Etwa ein Drittel des Gebietes Kanadas liegt nördlich des Polarkreises. Im Winter sind die Bedingungen vergleichsweise unwirtlich. Und doch haben hier zahlreiche Stämme der First Nations, der kanadischen Ureinwohner, Jahrhunderte überlebt. Und es siedeln sich immer wieder Weiße an - im Yukon und in den Northwest Territories.

Im Winter wird es monatelang nicht hell im Norden der Northwest Territories, der nördlichsten Provinz Nordamerikas und der größten Kanadas - und auch im Norden des Yukon und Nunavuts kann man die Sonnenstunden an einer Hand abzählen. Das Thermometer zeigt in dieser Zeit minus 40, minus 50 Grad an - manchmal sogar noch weniger. Dazu kommt ein eisiger Wind. Gefühlt fallen die Temperaturen damit um weitere zehn Grad - das reicht, um mit der Nase an einem Fotoapparat festzukleben oder innerhalb weniger Minuten Erfrierungen an nackter Haut zu bekommen.

Spezielle Ausrüstung für alle Tage

Normale Anoraks helfen dabei nicht mehr, auch eine noch so gute Gesichtscreme hat in dieser Umgebung ausgedient. Skihosen sind immer eine Notwendigkeit, ebenso Mütze und Handschuhe. Und Daunen. Denn nur die halten in dieser rauen Umgebung warm. Wie man das mit der Haut macht, die trotzdem noch aus all der Bekleidung hervorschaut? "Am besten mit Öl eincremen", sagt Carlos Gonzales, den es schon vor vielen Jahren nach Yellowknife verschlagen hat. Gefährlich hingegen: "Alles, worin Wasser ist - denn das friert sofort fest." Das gilt für Gesichtscreme ebenso wie für Haargel oder Make-up.

Die Kanadier sind auf ihre Winter vorbereitet, die im Oktober beginnen und mindestens bis April dauern. "Gute Kleidung ist das Wichtigste - viele Lagen", sagt Carlos. Warme Wäsche, polartaugliche Hosen, schwere Filzstiefel mit Kautschukfuß und lange Daunenmäntel mit fellbesetzten Ärmeln und Kapuzen - das ist die Kleidung, die man auf den Straßen am häufigsten sieht. Doch die Kälte ist trocken. "Dadurch wird man sofort wieder warm, wenn man in ein geheiztes Haus kommt." Oder in ein Auto mit Standheizung - oder eines, das auch läuft, wenn sich kein Fahrer darin befindet. "Bei bestimmten Temperaturen muss man das machen, sonst springen die Autos nicht mehr an", sagt er. Und: es gibt im Norden kaum ein Auto, dessen Windschutzscheibe ohne gewaltigen Riss durch den Winter kommt. "Das liegt an den Temperaturen und den Steinschlägen."

Die schönen Seiten der Kälte

Aber der Winter hat auch seine schönen Seiten - sogar sehr viele. Ayaka aus Osaka etwa ist vor allem wegen eines Phänomens in den Norden Kanadas gereist: Aurora Borealis, die Nordlichter. Es hat unter minus 40 Grad in dieser Winternacht, und es ist schon seit vielen Stunden dunkel. Doch die zierliche Japanerin lässt sich von der Kälte nicht schrecken.

Denn was sie am Himmel sieht, ist Entschädigung für alles Frieren: Langsam gehen über den Northwest Territories die Nordlichter auf - geladene Teilchen des Sonnenwindes, die auf die Erdatmosphäre treffen und so grüne Schleier erzeugen. Bei guten Bedingungen gesellen sich rote Streifen dazu. "Dann tanzen sie", sagt Buffalo Mike, einer der wenigen Einheimischen unter den asiatischen Himmelsguckern im Aurora Village, einer kleinen Tipi-Stadt jenseits der Grenzen der Hauptstadt Yellowknife. Die Lichter sind während des gesamten Winterhalbjahres am Himmel zu sehen, am besten in tiefster Nacht. "Man kann aber nie sagen, wann sie kommen und wie stark sie leuchten".

Besonders für Japaner halten diese Lichter, die durch das Auftreffen geladener Teilchen des Sonnenwindes auf die Erdatmosphäre an den Polen entstehen, eine besondere Faszination, denn sie wachsen mit Geschichten über die Nordlichter auf, wie Ayaka erzählt. Daher hege fast jeder Japaner den Traum, diese Lichter ein Mal in seinem Leben unter dem Sternenhimmel zu erleben. Im Norden Kanadas, der am Rande der Arktis liegt, sind die natürlichen Bedingungen besonders gut und die Reise vergleichsweise mühelos.

Einzigartige Nächte, traumhafte Tage

Doch nicht nur die Nächte sind einzigartig, im Winter in der Nähe des Polarkreises. Carlos Gonzales' liebste Beschäftigung ist es, an einem klaren, klirrend kalten Tag mit dem Schneemobil auszurücken und dabei noch ein paar Touristen mitzunehmen. Am liebsten fährt er auf den Großen Sklavensee (Great Slave Lake). Dieser gut 27.000 Quadratkilometer große See gilt als achtgrößter der Erde und ist mit einer maximalen Tiefe von 614 Metern der tiefste Nordamerikas - und doch friert er im Winter zu großen Teilen zu. "Die Eisschicht kann bis zu zwei Meter dick werden", sagt Carlos. Damit trägt der See nicht nur die Fahrer, die mit den 125 PS starken Maschinen über die unberührte Schnee- und Eisfläche fliegen.

Carlos hat eine kleine Hütte am Ufer des Sees - fließendes Wasser gibt es hier nicht und nur ein outhouse, ein Plumpsklo, gut 100 Meter entfernt. Und doch ist es äußerst gemütlich, wenn er am Gasherd steht, einen schmackhaften Lunch zubereitet und vom Leben in Eis und Schnee erzählt. Von den "ice roads" etwa, die eine wichtige Lebensader für all jene sind, die in den Diamantenminen im Norden des Territoriums arbeiten. Im Winter werden auf dem See Eisstraßen planiert, die breit sind wie Autobahnen.

Der Verkehr ist rege - vor allem Lastwagenkonvois sind nicht zu knapp. "Sie bringen Vorräte für das ganze Jahr in die Minen." Damit das Wasser unter der meterdicken Eisschicht nicht zu viele Wellen schlägt und Risse an der eisigen Oberfläche verursacht, dürfen die Laster allerdings nur noch mit zehn Stundenkilometern über das Eis schleichen - damit brauchen sie für ihre Touren eine halbe Ewigkeit.

Gold- und Diamantenrausch

Oder Carlos plaudert über die Gründung der Stadt Yellowknife in diesem wahrhaft unwirtlichen Gebiet: "Yellowknife kam vor rund einem halben Jahrhundert zu Ruhm und Reichtum, als abenteuerlustige Goldgräber in den Minen nach Gold suchten, denn hier gab es wesentlich mehr Gold als am Klondike." Die Vorräte waren bald erschöpft, doch da gab es noch einen Geologen, der aufgrund seiner Studien davon überzeugt war, dass es in der Region Diamanten geben muss.

Er suchte viele Jahre, wurde schließlich fündig und erzählte drei Jahre lang niemandem von seinem milliardenschweren Fund. Inzwischen sind drei Diamantenminen am Werk und fördern die Edelsteine, die gleich an Ort und Stelle verarbeitet werden. Die strahlendsten und reinsten die Diamanten der Welt seien das, sagen die Einheimischen.

Und dann gibt es da noch die natürlichen Wettervorhersagen, von denen Carlos mit einem breiten Grinsen erzählt: die wilden Tiere. "Wenn du über den Highway fährst und siehst kein einziges Tier, dann weißt du, dass es noch kälter wird." Denn die Tiere seien von Natur aus neugierig - und wenn sie sich allzu weit in die flachen Kiefernwälder verziehen, dann ist es sogar Wildbüffeln, Elchen, Karibus, Luchsen, Schneefüchsen und Wölfen zu kalt.

Elch-Burger, Karibu-Hackbraten, Bison-Suppe

Für die Einheimischen sind die wilden Tiere Teil des täglichen Lebens. Elch-Burger, Karibu-Hackbraten, Bison-Suppe und Trockenfleisch (Jerky) der arktischen Fische gehören zum Speiseplan, denn viele jagen und verarbeiten Fleisch und Felle. Buffalo Mike, der Kanadier aus dem Camp, hat sich in Sachen Lebensart einiges von den Indianern abgeschaut, die seit Jahrhunderten in der Eiswüste überleben. Er trägt eine Lederkappe mit Fell und Handschuhe, die so groß sind wie Einkaufstüten - genäht aus einem Wolf, den er selbst geschossen hat. Und auch Carlos hat scharf gewürztes Jerky dabei von einem Elch, den er im Herbst erlegt hat.

Carlos drängt zum Aufbrauch, draußen beginnt die Sonne schon langsam zu sinken. Es geht wieder auf das Schneemobil, vorbei an bizarr geformtem Eis und an allerlei Schneewehen, zurück Richtung Yellowknife. "Es kann gut sein", sagt er, "dass dir auf der langen Fahrt über den See kein einziger Mensch entgegen kommt." Das sei übrigens förderlich, wenn er sich mal abends aufmacht in seine Hütte. "Denn auch hier ist es so einsam; dass man einen hervorragenden Blick auf die Nordlichter hat."

Selbst wenn der Winter unwirtlich und allzu streng erscheint - Kanadas Norden kann auch anders. Wenn das letzte Eis weggetaut ist und das intensiv pinkfarbene Fireweed am Wegesrand anfängt zu blühen, dann beginnt ein kurzer, aber furioser Sommer.

An den langen Stielen der Pflanzen wachsen lauter kleine Blüten, die von unten nach oben aufblühen, sobald das Wetter warm und sonnig genug ist. "Das beginnt im Juni, im August spätestens ist die Pracht dann wieder vorbei", weiß Sheila Dodd, die aus England nach Whitehorse, die Hauptstadt der Northern Territories, ausgewandert ist. Wenn alle Blüten aufgeblüht sind, ist der Sommer zu Ende - und die Bewohner des Nordens machen sich daran, ihre Winterausrüstung instand zu setzen.

Angepasstes Leben

Auch zahlreiche Bäume wachsen hier - überwiegend Nadelbäume, die für europäische Verhältnisse sehr kurz scheinen. Kein Wunder, sagen die Kanadier: Die Wurzeln können nicht tief in den Boden gehen und finden in dem dauergefrosteten Boden kaum Nahrung. Also werden die Bäume auch nicht höher. Dennoch ist die Flora an diesem entlegenen Ende der Welt alles andere als mickrig und fad - denn sie wissen sich zu helfen, die Kanadier an diesem entlegenen Fleckchen Erde.

Judith etwa: Sie hat in Inuvik, dem zweitgrößten Ort der Northwest Territories, eine kleine Gartenparzelle. Kein Schrebergarten ist das, eher eine Art Kleingärtnerclub - in einer riesigen Halle, die einst zum College der Stadt gehörte. Diese Kleingärtner können wohl mit Recht von sich behaupten, die nördlichsten Beete der Welt zu haben. Und doch wächst auf den kleinen Parzellen nicht alles so, wie sie es gern hätten: "Das Basilikum gedeiht ganz gut, aber die Karotten und der Salat wollen auch im Juli nicht so richtig wachsen", sagt Judith. "Vielleicht ist es noch zu kalt." Die meisten Gärtner widmen sich hier eher dem Kräuter- und Gemüsebau als den Zierpflanzen.

Leben nördlich des Polarkreises

Von Inuvik zum Polarmeer ist es nicht mehr weit - eine gute Stunde mit dem Flugzeug bis Tuktoyaktuk. Doch bereits im Yukon durchschneidet der Polarkreis bei 66°33" nördlicher Breite das Land. Zwar ist es hier im Sommer nicht kalt - zumal, wenn die Mitternachtssonne scheint. Doch wirklich warm ist es auch nicht immer.

Menschen gibt es im Norden wenig - dafür wildes Getier in Mengen: Umherziehende Karibu-Herden etwa, Grizzlys und Schwarzbären, Elche, Moschusochsen, zahlreiche andere Wildarten - und Mücken, die "Canadian Air Force", wie sie von den geplagten Einheimischen scherzhaft genannt werden. Groß sind sie und gemein, "aber nur im Sommer da", wie Sheila trocken sagt. Dann allerdings sind sie in Schwärmen aktiv - tags und nachts.

Heiß ersehnte Sonnenstrahlen

Aber der Sommer ist ja nicht allzu lang. Dennoch warten die Menschen sehnsüchtig auf ihn. In Inuvik, der nördlichsten Stadt Kanadas, bleibt es im Juni und Juli 24 Stunden lang hell. "Dafür ist es im Dezember komplett dunkel", sagt Gärtnerin Judith. Das Leben passt sich den Gegebenheiten an: Am frühen Morgen sieht man kaum Menschen auf den Straßen. Sie schlafen aus. Denn die Abende nehmen kein Ende - Kanadas nördlichste Bewohner tanken Sonne, so viel und so oft sie können. Der Sommer ist auch die Zeit, in der die Ureinwohner vom Stamm der Inuvialuit und der Gwitch'in sammeln, was Wald und Ebenen hergeben, noch immer nach den Traditionen der Vorväter.

Für Touristen ist nicht nur der äußerste nördliche Zipfel Kanadas ein beliebtes Ziel - der Weg dorthin ist für viele das größte Erlebnis. Von Whitehorse aus sind es rund 1200 Kilometer Richtung Nordwesten bis Inuvik. Im Wohnmobil, auf dem Motorrad, auf dem Fahrrad oder einfach im Auto. Der Klondike Highway, der in den Dempster Highway übergeht, führt durch unglaubliche Weiten. Die Berge sind hier mindestens so hoch wie die in den Alpen - und nur diese einzige Straße zerschneidet das ursprüngliche Land.

Mit einer Autobahn ist der Highway jedoch nicht zu vergleichen. Gravel Road, das ist die liebenswerte Beschreibung der Kanadier für diese Straße, auf der lauter lose Kieselsteine liegen. Keine Begrenzungen, keine Leitplanken, keine Spuren - dafür gelegentlich ein Schild, wie weit das nächste Haus entfernt ist. Im Sommer, so berichten die Anwohner, sei der Verkehr auf dieser Straße stetig. "Dann kommt einem etwa alle 15 bis 30 Minuten ein Auto entgegen."

Informationen

Ziel: Die Yukon und Northwest Territories (NWT) erstrecken sich nahezu über den kompletten Norden Kanadas - etwa vom 60. Breitengrad bis zum Polarmeer. Allein der Yukon ist mit etwa 482.000 Quadratkilometern fast doppelt so groß wie Deutschland. Er grenzt im Norden an das Eismeer, im Westen an Alaska und im Süden an British Columbia. Die NWT schließen sich im Osten an, Anrainer sind südlich die Provinzen Alberta und Sasketchewan, im Osten das erst seit 1999 eigenständige Territorium Nunavut. Im Südwesten des Yukon liegt der mit 5959 Metern höchste Berg Kanadas, der Mount Logan. Der längste Fluss der Territorien, der Yukon Fluss, gehört mit mehr als 3000 Kilometern zu den längsten Nordamerikas. Die NWT-Hauptstadt Yellowknife liegt am Great Slave Lake, dem achtgrößten See der Erde.

Anreise: Condor fliegt im Sommer direkt von Frankfurt/Main nach Whitehorse. Von Calgary, Edmonton und Vancouver gibt es Verbindungen mit Air Canada nach Whitehorse und Yellowknife. Lokale Fluggesellschaften fliegen auch die kleinen Flughäfen an.

Reisezeit: Zwischen Juni und August ist es im Norden Kanadas nicht nur nahezu rund um die Uhr hell - die Temperaturen bewegen sich auch in den zweistelligen Plusgraden. Mücken allerdings sind in diesen kurzen arktischen Sommern sehr aktiv; daher gehören Schutzbekleidung und die einheimischen Schutzmittel ins Gepäck.

Unterkunft: Im Norden Kanadas ist die Anzahl der Unterkünfte übersichtlich. Die Hotels, Motels und Pensionen entlang des Weges sind meist einfach, haben aber alles, was ein Reisender braucht - meist sind sie gleichzeitig Tankstelle, Tante-Emma-Laden und Gasthaus. Wer mit dem Wohnmobil oder dem Zelt unterwegs ist, kann fast überall Halt machen und übernachten.

© sueddeutsche.de/dd - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: