Russische Geschichte:So plagt Russland die Erinnerung an das Revolutionsjahr

Russische Geschichte: Die Feier zum 99. Jahrestag der Oktoberrevolution im vergangenen Jahr wirkte trotz des ideologischen Fanatismus der Teilnehmer fast rührend.

Die Feier zum 99. Jahrestag der Oktoberrevolution im vergangenen Jahr wirkte trotz des ideologischen Fanatismus der Teilnehmer fast rührend.

(Foto: Alexander Zemlianichenko/AP)

Vor 100 Jahren wurde der Zar gestürzt, es folgten Chaos und der Triumph Lenins. Heute ist Putins Russland im Zwiespalt: Soll man stolz sein auf die Sowjetunion?

Von Julian Hans, Moskau

Gefeiert wird in Russland wohl am heutigen Mittwoch. Aber es ist ein Feiertag wie in jedem Jahr: Mit Blumen, Sekt und Pralinen begehen die Menschen den internationalen Frauentag. Davon, dass vor hundert Jahren Ereignisse ihren Lauf nahmen, die das Land umkrempelten und der Weltgeschichte eine neue Richtung gaben, ist nichts zu spüren. Kein Staatsakt, keine Reden, nicht einmal stilles Gedenken.

Am 8. März 1917 (nach dem damals im Zarenreich gebräuchlichen Kalender am 23. Februar) marschierten streikende Arbeiter durch das Zentrum der Hauptstadt, die damals Petrograd hieß. Als sich auch noch die Soldaten dem Protest anschlossen, musste der Zar eine Woche später abdanken.

Damit endeten 1000 Jahre Monarchie und 300 Jahre Herrschaft der Romanows. Nach acht Monaten, in denen nicht klar war, ob eine provisorische Regierung oder Arbeiter-Räte die Macht haben, rissen Lenins Bolschewiki sie an sich.

Die angeblich weinende Büste des Zaren

Hundert Jahre nach diesen zwei Revolutionen weiß das Land nicht, was es mit diesem Erbe anfangen soll. Wladimir Putins Russland zelebriert den Stolz auf (vermeintlich) große Zeiten - sei es unter den Romanows oder unter den Bolschewiki. Dass seinerzeit die einen Helden die anderen vernichtet haben, stellt die Ideologen von heute vor ein Dilemma. In ihrem geschichtspolitischen Schmelztiegel bilden Sowjetnostalgie und großrussischer Zarenkitsch eine brüchige Legierung.

Während Historiker in Russland und international Konferenzen zum Jubiläumsjahr abhalten, erlebt die russische Öffentlichkeit das Jubiläum bislang vorwiegend als eine Reihe von Skurrilitäten und Skandälchen anstelle echter Debatten. Jüngster Höhepunkt ist die Aufregung um eine erst im vergangenen Jahr aufgestellte Büste von Nikolaus II. auf der Krim, die angeblich weint. Ein wahres Wunder sei das, behauptete die Parlamentsabgeordnete Natalja Pokolonskaja vergangene Woche in einem TV-Interview mit verzücktem Blick.

Die ehemalige Generalstaatsanwältin aus Simferopol, die im September für die Kreml-Partei Einiges Russland in die Staatsduma einzog, will das Phänomen als Zeichen verstanden wissen: "Unsere Herrscher stehen uns bei. Sie sind dafür gestorben, dass wir Russland wieder zu einem großen und blühenden Land machen. Das ist unsere Pflicht". Eine eigens angerückte Kommission der orthodoxen Kirche musste am Dienstag indes alle Wundergläubigen enttäuschen: Die Tränen waren nicht echt.

Ende Januar hatte schon einmal ein Fraktionsmitglied von Einiges Russland mit seiner Deutung der Revolution irritiert. Diejenigen, die heute gegen die Rückgabe der Isaak-Kathedrale in Sankt Petersburg an die orthodoxe Kirche protestierten, seien "die Enkel und Urenkel jener Leute, die 1917 aus dem Ansiedlungsrayon gekommen sind und unsere Kirchen zerstört haben", wetterte der stellvertretende Duma-Vorsitzende Pjotr Tolstoi.

Ansiedlungsrayon hieß das Gebiet im Westen des Zarenreiches zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, in dem sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Juden niederlassen durften. Heute, so Tolstoi, finde man ihre Nachfahren in Radiosendern und Parlamenten: "Dort setzen sie das Werk ihrer Großväter und Urgroßväter fort."

Nicht nur der Verband der jüdischen Gemeinden in Russland erkannte in den Worten des Abgeordneten "offenen Antisemitismus". Tolstoi hingegen wehrte sich: Nur "Menschen mit einer kranken Fantasie und ohne Geschichtskenntnisse" könnten das so deuten.

Putins Russland - zusammengesetzt aus Scherben widersprüchlicher Ideologien

Über siebzig Jahre hinweg war der Tag der Großen Oktoberrevolution ein zentraler Feiertag, in dem das sozialistische Imperium seinen Gründungsmythos zelebrierte. Zu jedem Jubiläum wurden Straßen und Plätze im Land getauft. 50-Jahre- OktoberStraße, 55-Jahre-Oktober-Platz,60-Jahre-Oktober-Park.

Als das Jubiläum 1987 zum letzten Mal groß begangen wurde, zeichnete sich am Horizont das Ende des sozialistischen Staates ab. Seitdem herrschte Schweigen. Neue Feiertage wurden eingeführt, aber weder der Tag der Verfassung noch der Tag Russlands erreichten auch nur annähernd die Bedeutung ihres Vorgängers.

Nun zwingt das runde Datum die russische Gesellschaft, sich wieder mit einer Vergangenheit auseinanderzusetzen, zu der sie noch keine Haltung gefunden hat. Soll man stolz sein auf Macht und Größe der Sowjetunion und ihrem Verlust nachtrauern? Oder ist nicht eher Trauer angebracht über die Millionen Menschenleben, die einer Idee geopfert wurden? Vielleicht sogar ein bisschen Wut über die Zerstörungen und Verbrechen? Das führt auf geradem Wege zur ewigen russischen Frage: Wer ist schuld? Die schwache Zar? Die zerstrittenen Liberalen? Doch die Bolschewiki?

Die Suche nach Antworten sei deshalb so brisant, weil das neue Russland von Wladimir Putin aus den Scherben widersprüchlicher Ideologien zusammengesetzt sei, sagt der Historiker und Publizist Witalij Dymarskij. "Es ist eine Mischung aus Konservatismus, Liberalismus, Bolschewismus. Die Staatsmacht kann sich nicht entscheiden, was in diesem Ideen-Chaos das Wichtigste ist."

Erst Ende Dezember vergangenen Jahres hat Präsident Wladimir Putin eine Anordnung "über die Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag der Revolution 1917" erteilt. Das war zumindest für eine Würdigung der Februar-Revolution reichlich spät. Aber diese stößt ohnehin auf wenig Sympathie, hat sie doch in den Augen vieler den rechtmäßigen Alleinherrscher Nikolaus II. beseitigt, den Staat geschwächt und ans Ausland verraten. Einen starken Staat, so sehen es viele, haben erst die Bolschewiki wieder aufgebaut.

Rechtskonservative Kreise, so stellt der Historiker Jurij Piwowarow fest, stellten den Februar als das Ergebnis einer Verschwörung von Bourgeoisie, Freimaurern und englischen Spionen dar, als Werk einer fünften Kolonne. Piwowarow lehrt Geschichte und Politikwissenschaft an der Lomonossow-Universität in Moskau, der angesehensten Hochschule des Landes.

Manche setzten die Februar-Revolution gar mit dem ukrainischen Aufstand auf dem Maidan gleich, sagt er: "Sogar meine Studenten glauben, dass 1917 eine Farbenrevolution war" - eine Anspielung auf den Begriff der russischen Führung für die Aufstände in Georgien 2003 und der Ukraine 2004. Demnach war auch der Arabische Frühling ein vom Westen angezetteltes Komplott mit dem Ziel, Regime zu stürzen und den Ländern fremde Regeln aufzuzwingen.

"Die Mehrheit in Russland weiß gar nichts über die Revolution im Februar 1917", sagt Piwowarow. Noch viel schlechter stehe es um andere Jahrestage, von denen nicht einmal die Rede sei: "2017 jährt sich der Beginn des Großen Terrors zum 80. Mal. Davon spricht niemand. Auch nicht von Stalins Säuberungen in der Roten Armee, denen 1937 die fähigsten Kommandeure zum Opfer fielen. Wie sollte man auch daran erinnern, ohne den Terror und das Blut zu verurteilen?"

Die russische Geschichtswissenschaft benutzt inzwischen den Begriff von der Großen Russischen Revolution, der die Ereignisse von Anfang 1917 bis zum Ende des Bürgerkrieges 1921 umfasst. Ein problematisches Konzept, findet Piwowarow, denn "in der Fülle der Ereignisse gehen die unterschiedlichen Fragen unter".

Die Geschichtspolitik des Kremls orientiert sich derweil an einer eher schlichten Maxime: Revolutionen sind schlecht. Alles, was Russland stark, groß und souverän gemacht hat, ist gut - ganz gleich, ob es die Romanows waren oder der kommunistische Diktator Stalin. Staatlichkeit und Kontinuität des Staatswesens spielten eine zentrale Rolle in der russischen Geschichtsbetrachtung, sagt Nikolaus Katzer, der Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau: "Die Rettung des Staates aus der Anarchie ist ein wichtiges Motiv."

Nach dem Willen des Kreml sollen Fragen nach Schuldigen und Debatten über Fehler oder gar über Lehren für Politik und Gesellschaft keine Rolle spielen. "Lehren aus der Geschichte sind in erster Linie wichtig zur Versöhnung, zur Stärkung der gesellschaftlichen, politischen und zivilen Einigkeit", sagte Putin in seiner Rede an die Nation Anfang Dezember. "Wir dürfen nicht zulassen, dass Spaltung, Groll, Verletzungen und Verbitterung aus der Vergangenheit in unser heutiges Leben gezerrt werden."

Es gebe allerdings durchaus Figuren, so der Präsident, die "im eigenen und im Interesse anderer" mit Tragödien spekulierten, "die praktisch jede Familie in Russland betroffen haben, auf welcher Seite der Barrikaden sich unsere Vorfahren auch befanden".

Versöhnungsdenkmal auf der Krim

Eine vom Präsidenten eingesetzte Kommission bereitet nun die Feiern für einen "Tag der Versöhnung" vor, der im November begangen werden soll. Ein Wettbewerb für ein Versöhnungsdenkmal läuft ebenfalls. Es soll auf der Krim stehen.

Dort hatte die Rote Armee die Weißen 1920 entscheidend geschlagen. "Versöhnung meint, dass man diese gegensätzliche Kräfte unter einem patriotischen Dach zusammenführt", sagt Katzer. So werde eine weiß-rote Revolution daraus. "Beide Seiten haben jeweils auf ihre Weise ein Imperium neu errichten wollen. Die Weißen wollten die Restitution, und die Roten haben es geschafft."

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