Offene Grenzen:Das Märchen von der linken Weltoffenheit

Türkische Gastarbeiter treffen in Deutschland ein

Ankunft türkischer Gastarbeiter auf dem Düsseldorfer Flughafen im Jahr 1961. Als in der frühen Bundesrepublik die ersten von ihnen angeworben wurden, waren die Gewerkschaften äußerst skeptisch.

(Foto: Wolfgang Hub/picture alliance / dpa)

Die Forderung nach offenen Grenzen steht nicht in der linken Tradition, sondern in der liberalen. Nur wissen es die wenigsten Linken heute noch.

Kommentar von Nikolaus Piper

Man kann es auch positiv sehen. In unsicheren Zeiten wie diesen schlägt auch der politische Diskurs seine Volten. Rechte reden wie Linke, andere Linke lernen die liberale Weltordnung lieben. Und dann gibt es noch Oskar Lafontaine. In einem Interview, das der Pate der Linkspartei kürzlich der Welt gab, zitiert er den britischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch zustimmend mit der Feststellung, "dass der Ruf nach offenen Grenzen eine zentrale Forderung des Neoliberalismus" sei, also mitnichten links. Der "freizügige Personenverkehr" liege ebenso im Unternehmer-Interesse wie der grenzenlose Kapitalverkehr und der Freihandel.

In der Öffentlichkeit und auch in den eigenen Reihen bekam Lafontaine viel Ärger, was auch damit zusammenhängen mag, dass Lafontaines Frau Sahra Wagenknecht, die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, zuvor schon mit einigen wilden Äußerungen zum Thema Flüchtlinge und Einwanderer aufgefallen war. Unter anderem hatte sie der Bundeskanzlerin eine Mitverantwortung für den Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin zugeschrieben. Da wird man hellhörig.

"Proletarier aller Länder" meint nicht "Refugees welcome"

In einem Punkt allerdings hat Lafontaine noch mehr recht, als ihm vielleicht bewusst ist. Historisch ist die Forderung nach offenen Grenzen nicht nur neoliberal, sie ist einfach liberal. Der Linken war sie sehr lange sehr fremd. Im bürgerlichen 19. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen den Staaten relativ leicht zu überqueren. Und das war für die Arbeiterbewegung ein Problem. Um einen Eindruck davon zu bekommen, muss man nur das Kommunistische Manifest lesen. "Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet", heißt es da. Karl Marx und Friedrich Engels sahen dies 1848 als Ergebnis einer gesetzmäßigen Entwicklung.

Zwischen den Zeilen scheint aber auch Bedauern darüber durch, dass die Bourgeoisie alle nationalen Grenzen einreißt. Fast so, als seien die beiden Begründer des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus in ihrem Herzen Konservative. Die Parole "Proletarier aller Länder vereinigt euch!" ist jedenfalls nicht zu verwechseln mit "Refugees are welcome here".

US-Arbeiter im 19. Jahrhundert fürchteten die Konkurrenz der Einwanderer

Dass es als links gilt, für Einwanderung, für "Bleiberecht für alle" und ähnliches zu demonstrieren, ist ein relativ neues Phänomen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung gab es, ganz im Gegenteil, immer wieder Gewerkschaften, die explizit gegen Einwanderer waren. Die "Knights of Labor" ("Ritter der Arbeit"), eine der ersten US-Gewerkschaften, kämpften zum Teil äußerst militant gegen chinesische Einwanderer, die Ende des 19. Jahrhunderts beim Eisenbahnbau Arbeit fanden.

Dabei spielte eine Rolle, dass viele der Gewerkschafter die Chinesen als minderwertige Rasse betrachteten. Im Kern war ihr Verhalten jedoch ökonomisch begründet. Sie fürchteten die "Lohn- und Wohnungskonkurrenz" der Einwanderer. So formuliert es Lafontaine 130 Jahre später.

Es ist keine Frage: Wenn sich das Angebot an Arbeitskraft erhöht, sinkt der Preis, also der Lohn; wenn die Nachfrage nach Wohnungen steigt, dann steigt auch deren Preis, die Miete. Wenn man aber versucht, die Lohnkonkurrenz mit höheren Mindestlöhnen zu bremsen, so wie Lafontaine das vorschlägt, treibt man die gering qualifizierten Inländer oder die Einwanderer oder beide in die Arbeitslosigkeit.

Gewerkschaften misstrauten der Anwerbung von "Gastarbeitern"

Auch als in der frühen Bundesrepublik die ersten "Gastarbeiter" (so hieß das damals) angeworben wurden, waren die Gewerkschaften äußerst skeptisch, wie der Migrationsforscher Oliver Trede schreibt. Sie akzeptierten schließlich in den 1950er Jahren die Forderung der Arbeitgeber nach systematischer Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer, unter der Voraussetzung, dass für sie die gleichen Bedingungen galten wie für Inländer und dass immer zuerst versucht wurde, freie Arbeitsplätze mit Inländern zu besetzen. Gleichzeitig warben die DGB-Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, gezielt um "Gastarbeiter" als Mitglieder und trugen so zu deren Integration bei.

Und als nach der Rezession 1973/74 das Wirtschaftswunder vorbei war und die Arbeitslosenzahlen stiegen, setzte sich der DGB massiv für einen Anwerbestopp ein. In der Kommission für Fragen ausländischer Arbeitnehmer beim SPD-Vorstand forderten die Gewerkschaften 1974 die Förderung der freiwilligen Rückkehr arbeitsloser ausländischer Arbeitnehmer und eine "rasche und wirkungsvolle Verschärfung der Strafen bei illegaler Anwerbung und Beschäftigung".

All das war "links", auch wenn es heute nicht mehr so klingt. Und das klassische Argument dagegen ist tatsächlich liberal (oder auch "neoliberal", wenn man unbedingt will): Einwanderer besetzen ja nicht nur einen Arbeitsplatz, sie machen dort auch etwas, sie steigern das Bruttosozialprodukt, einige sind besonders innovativ und gründen Unternehmen. All das muss nicht, aber es kann sich zu mehr Wirtschaftswachstum addieren.

Wer die schlechten Seiten der Einwanderung - Lohndruck oder Migration in die Sozialhilfe - vermeiden und die Dynamik der Einwanderer nutzen will, der landet irgendwann bei einer modernen Einwanderungspolitik, wie sie etwa Kanada betreibt. Sie unterscheidet zwischen Flüchtlingen und Migranten. Flüchtlinge in Not bekommen humanitäre Hilfe, in der Regel auf Zeit. Im Übrigen richtet sich die Einwanderung nach den Bedürfnissen des heimischen Arbeitsmarktes. Wer eine Qualifikation hat, die gebraucht wird, der kommt ins Land, wer nicht, muss warten.

Aber wer so etwas vorschlägt, bekommt von anderen Linken, darunter der Parteivorsitzenden Katja Kipping, den Vorwurf zu hören: "Nützlichkeitsrassismus".

Es gibt also noch einiges zu diskutieren unter Linken.

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