Türkische Chronik (XXVIII):Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus

Der Pianist Dengin Ceylan

Verhaftet wegen ein paar Tweets: Dengin Ceyhan.

(Foto: privat)

Ein Pianist wird verhaftet, die kosmopolitische Kultur Istanbuls verschwindet. Wenn aber die Träume einer ganzen Generation systematisch zerstört werden, ist es bis zur Barbarei nicht mehr weit.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Als ich mich vorhin hinsetzte, um die Geschichte des Pianisten aufzuschreiben, der ins Gefängnis kam, prasselten schon wieder neue Horrormeldungen rein, Meldungen, die wirken, als würde man einen Film zu schnell anschauen - und die mich in ihrer Gesamtheit an eine Volksabstimmung vom August 1934 erinnern, die Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs.

Aber der Reihe nach: Die Woche begann mit Schreckensnachrichten aus einigen belagerten kurdischen Dörfern nahe der Stadt Nusaybin an der syrischen Grenze, in denen die Bewohner gefoltert und hingerichtet wurden.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Danach ging ein Kulturzentrum, das dem bekannten Comedian Müjdat Gezen gehört, der für seine kritische Haltung gegenüber Erdoğan bekannt ist, in Flammen auf. Und die Festnahmen, Entlassungen und erneuten Festnahmen einiger Abgeordneter der prokurdischen Partei HDP gleichen in ihrem Hin und Her fast schon einem Yoyo-Spiel.

All das findet statt vor dem Hintergrund einer großen Schlacht um das Referendum, durch das Erdoğan erreichen möchte, dass er zukünftig nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein wird.

Die Atmosphäre ist aufgepeitscht, erste Prozesse gegen Putschisten vom Sommer beginnen, viele rufen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe. Mit anderen Worten: Die Türkei gleicht dem Wilden Westen. Nur dass unser Sheriff der Verrückteste von allen zu sein scheint.

U-Haft wegen ein paar Tweets

Konzentrieren möchte ich mich heute aber auf die tragische Geschichte des jungen Pianisten Dengin Ceyhan, der am 14. Februar festgenommen wurde. Seine Inhaftierung hat einen großen Symbolwert.

Der Klavierspieler Ceyhan ist in seiner Generation sehr bekannt. Bei den Protesten im Gezi-Park im Sommer 2013 war er ganz vorne mit dabei. Während der Besetzung des Taksim-Platzes machte er zusammen mit dem deutsch-italienischen Musiker Davide Martello Musik. Später engagierten sich die beiden in der Kampagne "Piano for Soma", die sich für Stipendien für die Kinder der Opfer des Minenunglücks von Soma einsetzte, bei dem 301 Arbeiter ums Leben gekommen waren.

Dengin Ceyhan wurde nun festgenommen, weil er in seinen Tweets deutlich gegen Erdoğan protestiert hatte. Ein Gericht hat entschieden, dass er dafür in Untersuchungshaft kommen sollte. So wie es momentan aussieht, wird er dafür vermutlich einige Zeit hinter Gittern verbringen müssen - so wie viele Journalisten und Regimekritiker in der Türkei.

Die vielen Subkulturen Istanbuls verschwinden

Ceyhans Festnahme unterstreicht, wie wenig vom Geist der Gezi-Generation übrig geblieben ist, vom kulturellen Widerstand in den heißen Wochen im Juni 2013, der auch durch die Liebe zur Musik getragen wurde. Die Musik war der Treibstoff dieser intelligenten Rebellion.

Nur drei Jahre später - nachdem in der Türkei eine aggressive Form des Provinzialismus und des Fanatismus das Ruder übernommen hat - ist nicht mehr viel übrig von dieser Kraft der Musik. Genauso wie von der kosmopolitischen Kultur und den vielen Subkulturen, die Istanbul noch bis vor wenigen Jahren zu einem Besuchermagneten machten und deren positive Einflüsse nach und nach verschwinden.

Am Taksim-Platz wollen die Mächtigen ein Exempel statuieren

Erdoğan und sein kapitalistischer Provinzialismus haben gewonnen. Sein Erfolg besteht darin, einer ganzen Generation das Rückgrat gebrochen zu haben. Einer Generation, deren fantasievoller Widerstand zerfetzt wurde und die sich heute erschöpft, geschlagen, erniedrigt fühlt.

Ceyhan und seine Mitstreiter hatten den Stadtteil Pera und den Taksim-Platz in ein Labor verwandelt, in dem sie versuchten, an die Träume ihrer gleichgesinnten Freunde in Berlin, London, Barcelona, New York anzuknüpfen.

Doch die rücksichtslose Politik der AKP verwandelte die gesamte Gegend in ein einziges Einkaufszentrum. Den dort ansässigen alternativen Clubs wurden Alkoholverbote und Lizenzbeschränkungen auferlegt. Es entstand ein geschmackloser touristischer Veranstaltungsort neben dem anderen - so wurde die Jugend aus den bis dahin pulsierenden Gassen vertrieben.

Meine Kollegin Zülal Kalkandelen, die als genaue Beobachterin der Subkulturen Istanbuls gilt, hat kürzlich einen alarmierenden Bericht veröffentlicht. Die schleichende Islamisierung - die AKP hatte zehn Tage zuvor begonnen, eine große Moschee auf dem Taksim-Platz zu errichten - und eine Serie heftiger Terroranschläge haben auch der aktiven musikalischen Szene übel zugesetzt und der Lebensfreude der Jugend gerade den Todesstoß verpasst, wie sie zusammenfasst.

"Der Taksim-Platz und seine Umgebung sind die öffentlichen Plätze, an denen die Opposition immer noch am sichtbarsten ist", zitiert die Journalistin den Musiker Güneş Duru. "An diesem Ort wollen die Mächtigen ein Exempel statuieren. Denn dort hat mit den Gezi-Protesten der lauteste Widerstand stattgefunden. Und genau dort wird nun, so wie es seit 30 Jahren der sehnlichste Wunsch der islamischen Bewegung Millî Görüş ist, tatsächlich eine Moschee gebaut."

Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus

Ein anderer Musiker, Mabel Matiz, berichtete der Journalistin, dass viele Bars, Konzert- und Ausstellungshallen und historische Plätze schließen müssen, wodurch das Viertel all seine Vielfalt verliere.

"Alle sozialen Beziehungen und das öffentliche Leben haben sich verfinstert," sagt Murat Kılıkçıer, Mitglied der Indie-Rockband In Hoodies. Hakan Dedeoğlu, Herausgeber des Indie-Magazins Bant Mag, malt ein ähnliches Bild: "Pera ist nun ein Ort, der durch die staatliche Gewalt, ihren Antiurbanismus und ihre visionslose Kultur zerstört worden ist. Unsere Erinnerungen an die Gezi-Proteste sind begraben im verlassenen Taksim-Park. Keiner von uns möchte mehr an diese Zeit erinnert werden. Deshalb geht auch niemand mehr dorthin."

Genau damit hängt natürlich auch Ceyhans Verhaftung zusammen. Wenn ein Albtraum, bestehend aus Provinzialismus, Fanatismus, selbsterklärter Überlegenheit, kultureller Barbarei und Rücksichtslosigkeit, die Lebenslust und Träume einer ganzen Generation zerstört, ist es nur noch ein kurzer Weg bis zum Faschismus.

Deswegen erwähnte ich anfangs das Referendum von 1934: Damals ließ sich Adolf Hitler im Nachhinein von der deutschen Bevölkerung die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten auf seine Person als Führer und Reichskanzler bestätigen.

Das, was aktuell in der Türkei passiert, gleicht einem Horrorfilm, den scheinbar keine Kraft dieser Welt anhalten kann.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Fastabend.

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