Unsinniger Donnerstag:Wenn Tausende im Nachthemd auf die Straße gehen

Hemadlenz in Dorfen (Landkreis Erding): Am Unsinnigen Donnerstag wird der Winter ausgetrieben

Tausende ziehen am Unsinnigen Donnerstag durch Dorfen in weißen Kitteln - sie nennen sich die "Hemadlenzen".

(Foto: Renate Schmidt)

In Dorfen im Landkreis Erding hat sich ein archaischer, für Altbayern untypischer Faschingsbrauch erhalten: Beim Hemadlenz wird der Winter ausgetrieben.

Von Hans Kratzer

Vor gut einem Jahr ist Ahmed, ein junger Mann aus Afghanistan, nach einer kräftezehrenden Flucht in der oberbayerischen Kleinstadt Dorfen gelandet. Schnell hat er die deutsche Sprache gelernt und sich an hiesige Gewohnheiten angepasst, aber aus dem Staunen kommt er immer noch nicht heraus. Zum Beispiel am Unsinnigen Donnerstag, an dem die Dorfener Welt quasi aus den Fugen gerät, wenn auch ganz anders als in den Kriegswirren Afghanistans. Ahmed ist gebannt von dem Treiben, das am Vormittag langsam Fahrt aufnimmt, als ein seltsam gewandetes Volk im Stadtzentrum zusammenströmt. Mit seiner dunklen Lederjacke ragt Ahmed aus der Masse der Hemadlenzen deutlich heraus. Deren Bekleidung besteht aus Zipfelmützen, weißen Nachthemden und langen Unterhosen. Manche tragen Holzstecken bei sich, an denen Saubladern hängen, also Schweinsblasen und alte Laternen. Unter dem blauen Himmel erstreckt sich eine surreale Faschingsszenerie in Weiß, wie man sie in Altbayern nirgendwo sonst zu sehen bekommt.

Der Unsinnige Donnerstag gilt in Dorfen seit Menschengedenken als eine Art Nationalfeiertag. Die Schulen sind an diesem Tag geschlossen, und viele Dorfener nehmen extra Urlaub, um dem alten Brauch zu frönen. "So etwas gibt es in Afghanistan nicht", sagt Ahmed, der Freude und Ausgelassenheit bislang höchstens vom Zuckerfest her kannte, das nach dem Fastenmonat Ramadan gefeiert wird.

Unsinniger Donnerstag: Höhepunkt des Hemadlenzentreibens: das symbolische Verbrennen des Winters.

Höhepunkt des Hemadlenzentreibens: das symbolische Verbrennen des Winters.

(Foto: Renate Schmidt)

Auch Franz Hofer, dessen Schicht bei einem bayerischen Automobilkonzern erst am Nachmittag beginnt, ist vorher schnell in seine Hemadlenzenkluft geschlüpft. Es ist für alte Dorfener wie ihn eine innere Pflicht, diesen Brauch zu pflegen. Dass einer wie Ahmed Bauklötze staunt, wundert Hofer nicht. "Als Neuling musst ja fast meinen, hier bricht der Krieg aus!", sagt er lachend, als ihn die Wucht der vorandrängenden weißen Menschenmasse ergreift und von dannen spült. Tausende ziehen jetzt, getragen vom Rhythmus der blasmusikalischen Faschingshymnen, zu einem der alten Stadttore, wo das Dorfener Faschingsprinzenpaar aus dem Turmstüberl abgeholt wird. Über eine Leiter steigen die sogenannten Tollitäten vom Turm herab, begleitet von Huldigungen, Jubelschreien, Konfettikanonen und Glitzerregen. So geht es also zu, wenn das Faschingsvolk die Macht übernimmt, was ja der Urbedeutung des Karnevals entspricht.

Beim Hemadlenzenbrauch aber kommt noch mehr dazu. Es machen auch viele junge Menschen mit, warum kommen sie eigentlich hierher? "Zum Saufen und Partymachen halt", so lautet eine Standardantwort von Junglenzen, die erkennbar vorgeglüht haben. Ein Mädchen ergänzt dann doch: "Ich glaub, da wird der Winter ausgetrieben!" Wo und wann, das weiß sie allerdings nicht. Tatsächlich häufen sich am Faschingsende an mehreren Orten in Bayern die Rituale des Winteraustreibens, ohne dass erklärbar ist, welcher Zusammenhang zwischen Fasching und Winteraustreiben besteht. Nur das Lärmen und das symbolische Verbrennen von Puppen bilden einen roten Faden, auch in Dorfen.

Es schlägt zwölf Uhr, der Zug der mehr als 3000 Hemadlenzen nähert sich dem Höhepunkt. Die in einem Käfig mitgeführte Strohpuppe, der Strohlenz, wird nun an einem Galgen aufgeknüpft. Unter dem Gejohle des Volks wird die baumelnde Figur endlich angezündet. Mit diesem symbolischen Akt treiben die Dorfener Hemadlenzen nun den Winter aus. "Brinn, du Hund!" rufen einige, und es dauert keine Minute, bis die Figur zu Asche wird. "Früher sind wir über den brennenden Lenz drübergesprungen", erzählt Alt-Hemadlenz Schorsch Brandhuber. Er gehört zu jener Fraktion, die am Brauch festhält und im Hemadlenz mehr sieht als Alkohol und "Marmor, Stein und Eisen bricht!".

Die Traditionalisten sind schon am Gewand zu erkennen. Sie hängen sich eine Breze um den Hals, die Frauen tragen weiße Schlafhauben, die Männer schwarze Zipfelmützen. Das Partyvolk scheut dagegen vor farbigen Perücken und Ringelsocken nicht zurück, statt Brezen baumeln kleine Schnapsflascherl an den Hälsen. So ringt die Tradition ständig mit dem Ramsch aus dem Karnevals-Baumarkt. Gleichwohl: Dass Dorfen, wie manche behaupten, kein Ort sei, sondern ein Zustand, wird durch den Hemadlenzenbrauch kräftig untermauert. Er ist in seiner alemannischen Anmutung in Altbayern so einzigartig wie der Chinesenfasching in Dietfurt im Altmühltal.

Vor einigen Jahren stand der Hemadlenzenbrauch auf der Kippe. Er geriet außer Kontrolle, als mitten in der Stadt ein Discozelt aufgestellt wurde und die Zahl der Alkoholleichen schon am Morgen erschreckende Ausmaße annahm. Erst nachdem die Stadt den Alkoholausschank und das Discozelt verbot, bekam die alte Tradition wieder Oberwasser.

In Zeiten des Klimawandels drängt sich allerdings die Frage auf, warum der Winter bei Temperaturen von fast 20 Grad ausgetrieben werden muss. "Da müass ma aufpassen, dass ma ned zuviel Winter austreiben", frotzelt ein Hemadlenz, diese Frage aufschnappend. Aber vielleicht besteht ja in Bayern beim Thema Fasching ein großes Missverständnis. Alte Bräuche wie der Hemadlenz waren in ihrem Kern immer eine ernste Angelegenheit. Erst nach dem Krieg obsiegte hier die Gaudi, nachdem die Bayern mehr oder weniger erfolgreich Elemente des rheinischen Karnevals übernahmen. "Zum Spaß, mei Liaber, ist der Fasching ned da, da hört sich der Spaß auf", sagte schon der Volkssänger Karl Valentin.

Nachdem der Winter ausgetrieben ist, verziehen sich die Hemadlenzen in die Wirtshäuser der Stadt, wo jetzt weitergefeiert wird. Manch ein Hemadlenz hat bereits schweren Seegang, die Sanitäter sagen aber, es sei diesmal sehr ruhig verlaufen. Ahmed kehrt zurück in seine Sammelunterkunft, vielleicht ähnlich resümierend wie es einst der Schriftsteller Josef Martin Bauer (1901-1970) tat. Er schrieb, so etwas wie Hemadlenz sei nur in einem Ort möglich, der so innig der Narretei huldigt wie jenes Dorfen, das den Karneval in einer maßlosen Verrücktheit begeht.

Dieser Text ist am 25. Februar 2017 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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