Nachruf:SZ-Literaturchef Christopher Schmidt ist tot

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Christopher Schmidt (Foto: Alessandra Schellnegger)

Er war eine der markantesten Stimmen des Feuilletons und eine prägende Stimme dieser Zeitung. Nun ist Christopher Schmidt im Alter von 52 Jahren gestorben.

Nachruf von Sonja Zekri

Zu den Klischees über Feuilletonisten gehört, dass sie handwerklich nur begrenzt einsetzbar sind. Christopher Schmidt, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung seit 2001, war wie in vielem anderen auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Er konnte unangemeldet in einer vollgerümpelten, frisch bezogenen Wohnung auftauchen, zerkaute eine Begrüßung zwischen den Zähnen, stellte den Werkzeugkasten auf den Boden und schritt als Erstes mit Fahnderblick die Zimmer ab. Drückte Klinken. Schraubte Griffe. Fixierte Knäufe. Er hasste Pfusch und halbe Sachen. Schlampereien beim Dübeln oder beim Denken waren ihm gleichermaßen wesensfremd. Dass sich andere an ihm ausrichteten wie Eisennadeln an einem Magneten, hatte eine fast physikalische Logik.

Sechzehn Jahre lang war Christopher Schmidt eine der markantesten Stimmen des Feuilletons, eine prägende Stimme dieser Zeitung, ein präziser Analytiker feinster Schwingungen in der kulturellen Landschaft, anfangs als Theaterkritiker, später als Literaturchef. Er war der Herr über eine tägliche Literaturseite, über Krimi- und Buchmessen-Beilagen, Lektüretipps und Autorenporträts. Dass die Literaturseite, die als reines Forum für Kritiken begann, inzwischen Reportagen, Porträts, Gastbeiträge und Interviews, kurz: alle Spielarten der Vermittlung literarischen Lebens zeigt, ist sein Verdienst.

Wer als Leser dieser Zeitung ein Buch in die Hand nahm, der tat dies mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, weil Christopher Schmidt es ausgewählt hatte, ohne dass es der andere auch nur ahnte. Und dies nicht nur deshalb, weil die Arbeit eines Literaturchefs für den Leser ohnehin weitgehend unsichtbar ist und auch unbedingt sein sollte, sondern weil Christopher Schmidt die Anstrengung konstanter Hege und Pflege seines Gegenstandes nie zum Thema gemacht hätte und fast peinlich berührt war, wenn man es tat.

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Buchkritik von Christopher Schmidt

Über die Jahre gehörte er einigen der wichtigsten Theater- und Literaturjurys dieses Landes an, er moderierte, referierte und lehrte an der Deutschen Journalistenschule in München. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, aus seiner Nähe zu den Berühmten der Bühne, des Films, der Literatur Kapital zu schlagen, ihren Glanz auf sich abstrahlen zu lassen, ein strahlender Name hier, ein Fernsehauftritt dort, eine Whiskey-Runde nach der Vorstellung. Er aber pflegte eine manchmal mürrische, immer unbestechliche, auf bedauerliche Weise etwas aus der Mode gekommene Distanz.

Sein Bildungsreichtum war ungeheuer und er wäre einschüchternd gewesen, hätte er ihn nicht auf denkbar großzügigste Weise geteilt: durch Humor. Besonders schön gelang ihm dies in jenen Texten, in denen er als Autor gar nicht in Erscheinung trat. Christopher Schmidt schrieb Streiflichter, in denen er mühelos den Bogen spannte von Shakespeares wenig bekannter Leidenschaft für die Botanik ("Hast du zur Nacht gejätet, Desdemona?") über Marcel Duchamps ignorierte Qualitäten als Schachspieler bis zu Gioachino Rossinis unterschätzten Fertigkeiten als Koch, die sich unter anderem in irgendetwas mit Spargel und Parmesan ausdrückten. Er war ein unwiderstehlicher Stimmenimitator, hier konnte er beispielsweise vormachen, wie sich Martin Heidegger ein Bier bestellt hätte, die "ekstatische Einheit der Zeitlichkeit", "ein frisch gezapft Seiendes" und andere Anspielungen auf den unverständlichen Duktus des Philosophen spielen eine wichtige Rolle. Es war eine vollkommen sinnfreie Spielerei, in der sich mittendrin auf typische Weise der Abgrund auftat. Der Vorteil eines solchen Szenarios hätte immerhin darin gelegen, dass Heidegger auf der Suche nach einem Bier weniger über die Juden nachgedacht hätte, schrieb er.

Einer seiner schönsten Essays beschrieb die Schraube - er war Wort- und Heimwerker

Viele Journalisten haben ein schwieriges Verhältnis zur Sprache, seines war obsessiv. Seine Texte verrieten eine Sprachgewalt, die reichte, um Romane zu füllen, kein Bild war schief, gebraucht, auch nur vage bekannt. Für die Entlarvung des alltäglichen politischen, medialen oder sonstigen Sprachmülls erfand er eine eigene kleine Feuilleton-Rubrik, den "Phrasenmäher", wo er das "Pimpen", den "Spoiler-Alarm" oder den "Atmenden Deckel" in ihre Einzelteile zerlegte und wieder zusammensetzte. Die Heimwerkerei verließ ihn auch thematisch nie: Einen seiner schönsten Essays widmete er der Schraube.

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Christopher Schmidt

Christopher Schmidt wurde 1964 in Hilden geboren, aber er wuchs in Düsseldorf auf, studierte hier und in Berlin Philosophie und Germanistik. Jahrelang schrieb er als freier Kritiker für die Frankfurter Allgemeine, die Zeit, die Berliner Zeitung, dann wechselte er 2001 zur Süddeutschen. Sein Vater war Bühnenbildner, seine Mutter Kostümbildnerin. Dem Theater gehörte auch sein Herz, lange ehe er Kritiker wurde und viele Jahre nachdem er schon die Literaturseite leitete. Seine letzte Kritik war Andreas Kriegenburgs "Macbeth" am Münchner Residenztheater - eine Tiefenanalyse jeder Farbnuance des Bühnenbildes, jeder akrobatischen Effekthascherei. Als die Kontroverse um die Münchner Kammerspiele ihren Höhepunkt erreicht hatte, erinnerte er an die experimentelle Tradition des Hauses - in der sich Intendant Matthias Lilienthal durchaus sehen dürfe. Unabhängig zu denken - die rare Königstugend der Intellektuellen - fiel ihm leicht.

In der Nacht zum Mittwoch ist Christopher Schmidt plötzlich gestorben. Er lebte im Münchner Stadtteil Bogenhausen, den Alten Friedhof neben der Musikschule mochte er sehr. Er hinterlässt eine Ehefrau und zwei Kinder. Vor Kurzem war er in Litauen, dem Gastland der Leipziger Buchmesse. Er war beeindruckt von der steten Nähe des kleinen Landes zum großen Nachbarn Russland, hatte eine große Geschichte mitgebracht, die er bald aufschreiben wollte. Dann hatte er ein paar freie Tage. An diesem Donnerstag hätte er wieder ins Büro kommen sollen. Er schuldet uns ja noch Texte. Wir schulden ihm unendlich viel mehr.

© SZ vom 02.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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