Zweiter Weltkrieg:Die Unfähigkeit zu reden

Zweiter Weltkrieg: Deutscher Angriff Richtung Stalingrad am Don-Übergang  | Second World War: German Troops attacking Stalingrad via the Don ford

Deutsche Soldaten im Juni 1942 in Russland.

(Foto: Scherl)

Unser Autor geht der Vergangenheit seines verstorbenen Vaters im Zweiten Weltkrieg nach. Und entdeckt, dass Vergessengeglaubtes weiterhin auf die Gegenwart wirkt.

Darf man das, dem eigenen Vater nachspüren, in seiner Vergangenheit wühlen, Dinge zum Vorschein bringen, über die er selber nie oder sehr selten oder nur andeutungsweise gesprochen hat? Es ist ein sehr madiges Gefühl, doch unser Autor hat es getan. Er hat nach der Pflege und dem Tod seines Vaters einen Nachforschungsauftrag beim Wehrmachtsarchiv und beim Roten Kreuz gestellt, um herauszufinden, wer sein Vater eigentlich gewesen war, bevor er ihn kannte.

Konkret ging es um seine Kriegsvergangenheit: Der Vater wurde 1942 zur Wehrmacht eingezogen, als 19-Jähriger, er kämpfte an der Ostfront, war mehrmals im Lazarett und geriet 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst fünf Jahre später heimkehrte. Der Sohn fragte sich: Was haben diese Erfahrungen aus ihm gemacht? Was wusste er vom Holocaust? Wie ging er mit seinen Erinnerungen um? Litt er an Traumata? Und ist es nicht irgendwie erbärmlich, posthum herausfinden zu wollen, was man sich im Leben nicht zu fragen traute? Die Suche nach der Vergangenheit des Vaters wird letztlich auch die Suche nach dem Urgrund der eigenen Feigheit.

Das Trauma lebt nach

Im Laufe der Recherchen wird klar: Die Unfähigkeit zu reden und die Unfähigkeit zu fragen sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie sind das Resultat einer emotionalen Abkapselung, der viele Kriegsteilnehmer anheimfielen und der die Art und Weise, wie sie ihre Kinder erzogen, stark beeinflusst hat. Viele Eltern erzählten nichts, um den Kindern grausame Dinge zu ersparen. Umgekehrt fragten Kinder ihre Eltern nichts, weil sie das Gefühl hatten, sie müssten sie vor ihren Erinnerungen schützen. Die Folgen spüren zum Teil sogar noch die Enkel, denn unverarbeitete Traumata können weitergegeben werden.

Viele Kriegsteilnehmer haben ihre Kinder aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen zur Ängstlichkeit, zur Risikovermeidung erzogen. Diese Erziehung war prägend für die ganze deutsche Nachkriegsgeneration und die Babyboomer. Sie war auch nicht automatisch schlecht, sondern sogar sehr tauglich - für die ummauerte und eichenholzfurnierte Welt der Sicherheit, die die Kriegsgeneration nach 1945 geschaffen hat und die 1989 unterging. Diese Erziehung erweist sich jedoch als untauglich für die jetzige Welt, die Mut und Herausforderung belohnt und Zaudern bestraft. Das mag letztlich das eigentliche Problem vieler Kriegskinder und Kriegsenkel sein - sie leben an der Bruchlinie zweier konträrer Lebensvorstellungen: des Sicherheitsdenkens der deutschen Nachkriegswelt und des angloamerikanisch geprägten Globalisierungssturms des digitalen Zeitalters. Und die Vergangenheit wirkt in ihnen weiter.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: