Nazis wollten sie einschmelzen:Mutige Burschen retten Grafinger Kirchenglocken

Grafing Glockendiebstahl 1942, Denkmal

Das Denkmal an der Rotter-, Ecke Kirchenstraße erinnert an den Diebstahl vom 4. März 1942, der die Glocken vor dem Einschmelzen retten sollte.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Vor 75 Jahren wollten die Nazis Grafinger Kirchenglocken für die Kriegsmaschinerie einschmelzen. Eine Gruppe Jugendlicher verhinderte das

Von Thorsten Rienth, Grafing

Nach Grafing kommt der "totale Krieg" mit der Post. Verpackt in einem unscheinbaren Kuvert, gestempelt am 14. November 1941. Für den Endsieg, so heißt es in dem Schreiben, seien größte Anstrengungen nötig - dazu gehörten auch die Glocken der Stadt. Es folgen Instruktionen, Zeitplan und Fristen. In der bitterkalten und verschneiten Nacht zum 4. März 1942 sind die Glocken aus den Türmen geholt und liegen zum Abtransport bereit. Da schleichen sich ein paar Jugendliche an die Laderampe in Grafing Bahnhof und hieven zwei davon auf einen alten Sanitätsschlitten.

Franz Lettl und Stefan Neumaier sind da noch keine 18 Jahre alt, Anton Lettl, der den beiden hilft, noch nicht einmal strafmündig. Doch schon nach ein paar Metern droht der Plan zu scheitern. Weil sich der Schlitten als zu schwach herausstellt, vergraben sie die kleinere der beiden Glocken am Wegrand im tiefen Schnee. Das große 360-Kilogramm-Geläut fahren sie weiter zum Anwesen Reitberger, wo Mutter Lettl wohnt. Nur eine Art Zwischenstation, so steht es in den alten Akten des Münchner Landgerichts II. Christian Oswald aus Englmeng hat sie vor einigen Jahren im Bayerischen Staatsarchiv entdeckt - und abgeschrieben. Die Inhalte der kaum noch lesbaren Dokumente rettete er damit wohl vor dem Verfall.

Die große Glocke wollen die Burschen in einer Kiesgrube verstecken

Diesen Berichten zufolge kommen Stefan Neumaier und Franz Lettl mit Josef Feldmann in der nächsten Nacht wieder. Die große Glocke wollen sie in der Feldmann-Kiesgrube verstecken. Nach der Panne mit dem maroden Schlitten in der Nacht vorher folgt jetzt der nächste Schreck: An einem Hang kommen sie nicht mehr weiter. Deshalb wecken sie ihre in der Nähe wohnenden Bekannten Michael und Josef Wieser, Vater und Sohn, auf. Auch der 14-Jährige Josef Stürzer packt mit an. Mit vereinten Kräften klappt es. Wenig später ist die große Glocke in der Kiesgrube. Dann geht es zurück zu der in der Nacht zuvor nur hastig mit Schnee bedeckten kleineren Glocke. Sie findet einen Platz bei den Feldmanns unterm Heu.

Immerhin vier Wochen dauert es, bis die Glocken gefunden und die Jugendlichen als mutmaßliche Täter ermittelt sind. Wie ihnen die Polizei auf die Spur kam, ist offen. Allein die Verfolgung der Schlittenspuren im Schnee kann es kaum gewesen sein, denn wie Quellen aus dem Stadtarchiv nahelegen, war Grafing zu dieser Jahreszeit voller Spuren von Schlittengespannen gewesen. Zudem schneite es auch in den Tagen nach dem 4. März immer wieder. Und von Anton Lettl ist die Aussage überliefert, dass sich zumindest die Jugendlichen untereinander abgesprochen hätten, niemanden zu verraten.

Ein Verrat von anderer Seite ist allerdings nicht auszuschließen, wenngleich etwa der damals zwölfjährige Karl Riedelsheimer heute erzählt: "Bei den Grafingern hat richtige Entrüstung geherrscht, dass die Glocken weggenommen werden sollten." Wahr ist allerdings auch: Wie in so vielen anderen Dörfern im Umland erfuhren die Nazis auch in Grafing breite öffentliche Unterstützung.

Obwohl nur einige der Beteiligten überhaupt für einige Tage in Untersuchungshaft kommen, drohen ihnen drakonische Strafen. "Wer sich an gesammeltem oder von Verfügungsberechtigten zur Sammlung bestimmtem Metall bereichert oder solches Material sonst seiner Verwendung entzieht, schädigt den großdeutschen Freiheitskampf und wird daher mit dem Tode bestraft", steht in der am 29. März 1940 erlassenen "Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des deutschen Volkes".

Fast zwei Jahre vergehen, bis das Landgericht München II Anfang Februar 1944 die Urteile fällt. In der Verhandlung verhalten sich die Glockendiebe schlau, sie stellen sich dumm, tun den Diebstahl als "Lausbubenstreich" ab. Außerdem haben sie das Glück, einen milden Richter zu finden. Der verhängt wegen der "unerlaubten Entfernung beschlagnahmter Kirchenglocken" sowie deren Begünstigung lediglich Geldstrafen und kürzere Jugendarreste. Teilweise werden sie sogar mit der Untersuchungshaft verrechnet. Josef Feldmann sitzt bei der Urteilsverkündung nicht im Saal, er musste an die Front. Die drei Wochen Jugendarrest habe er dennoch anzutreten, legt der Richter fest - Nach dem "Endsieg".

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