Nordische Ski-WM:Geföhnt wie ein nasser Haarschopf

Men's Team Ski Jumping HS130 - FIS Nordic World Ski Championships

Über den Dächern von Lahti: Die Skispringer ließen sich am Samstag ein letztes Mal bei der WM von der Schanze niedersinken.

(Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

Selbst die vom Winde verblasene Medaille im Mannschaftswettbewerb trübt nicht die Gesamtbilanz der deutschen Skispringer bei der WM in Lahti. Ihnen gelingt auch so ein unverhoffter Ertrag.

Von Volker Kreisl, Lahti

Am Samstagabend, gegen sieben Uhr, war erst mal Schluss mit allen Plänen. Wettkampftaktik, Flug-Verbesserung, Medaillen-Attacke - alles, was man sich vorgenommen hatte, war hinfällig, denn jetzt blies der Wind. Mit strammen Böen zog er über den Hügel, mal von rechts, mal von links, von hinten und von vorne, und er föhnte die Schanze von Lahti wie einen nassen Haarschopf.

Zehn Minuten dauerte das ungefähr, ungeschoren kam keiner der Springer in dieser Phase davon, aber für die deutsche Auswahl hatten sich die Medaillenhoffnungen im Teamspringen erledigt. Sieben Punkte betrug kurz zuvor noch der Rückstand auf die führenden Polen, dann misslang Stephan Leyhe unter extremen Bedingungen der Sprung, er landete bei nur 103,5 Metern. Damit war ein grandioser WM-Abschluss verblasen. Und als wenig später, nach einem kleinen Aussetzer von Andreas Wellinger auch noch Bronze verloren war, als Polen vor Norwegen und Österreich gewonnen hatte, blies höchstens noch ein Lüftchen, und die Mondsichel hing wieder friedlich über der Schanze.

Die Frage bleibt, ob dieses Windchaos tatsächlich so ungeheuerlich war, wie es die Springer in ihren ersten Reaktionen natürlich empfanden. Richard Freitag ärgerte sich über die Ungeduld der Jury, die ruhig mal "fünf Minuten warten" hätte können. Stephan Leyhe war untröstlich und bedankte sich für die Solidarität seines Teams, das nicht aufhörte zu betonen, dass "wir gemeinsam gewinnen und gemeinsam verlieren". Im Moment war der Wind ein Schurke, im Großen und Ganzen ist er nur eine Metapher für den Sport Skispringen.

Wann und wie der verletzte Severin Freund zurückkehrt, ist noch nicht absehbar

Der ist tatsächlich unberechenbar. Er verdichtet so viele Faktoren in einen zehnsekündigen Vorgang, dass nur selten ein wirklich perfekter Sprung gelingt. Anlaufhocke, Schuh, eigener Druck, Sturzblockaden, Böen, die allgemeine "Performance" und noch mehr entscheiden über die Weite. Zwei der vier Silbergewinner aus Norwegen zum Beispiel, Anders Fannemel und Johann Andre Forfang, waren eine Saison lang weg vom Fenster und fanden just auf der Großschanze von Lahti zurück in die Spur. Der Pole Kamil Stoch dagegen, unlängst Gewinner der Vierschanzentournee sowie aktuell Führender der Weltcup-Gesamtwertung, ging bis zum Donnerstag in Lahti leer aus. Der deutsche Bundestrainer Werner Schuster sagte deshalb zum Abschluss der Titelkämpfe: "Unsere Gesamtbilanz ist nicht zu trüben."

Andreas Wellinger hat in Lahti zweimal Silber, Markus Eisenbichler zudem Bronze von der Kleinschanze geholt, beide zusammen trugen zum Goldgewinn im Mixed bei. Das ist mehr als der geforderte Ertrag, und es ist zudem die Erfüllung eines langen Planes trotz mancher Widrigkeiten. Schusters anderer Medaillenspringer Severin Freund, der Weltmeister von 2015, war ja nach einem Kreuzbandriss zu Hause geblieben. Er hatte nur die erste Hälfte dieser Saison geschafft, an deren Anfang schon eine Reise nach Finnland zu den WM-Schanzen stand. Im Oktober hatten sich die Springer bereits auf den März vorbereitet.

Wann und wie Freund zurückkommt, ist noch nicht absehbar. Sein Ziel sind selbstredend die Olympischen Spiele im kommenden Winter in Pyeongchang/Südkorea; verläuft die Reha gut, so könnte er im Sommer wieder erste Sprünge absolvieren. Weil aber am ehesten der Wind weiß, ob auch Freunds Form pünktlich im Februar 2018 zurückkehrt, kommt es weiter auf den Rest der Mannschaft an. Die hat in Lahti beides gezeigt: dass sie ihr Talent in Medaillen umsetzen kann, aber auch, dass sie noch weiter wachsen muss, oder wie Schuster es formuliert: "Die Zeit war noch nicht ganz reif."

"Da kann man sagen, was man will: Der andere ist untröstlich und nimmt es nicht auf."

Stephan Leyhe aus Willingen ist 25 Jahre alt, er ist ein verlässlicher und dennoch weiterhin reifender Springer. Von fünf Sprüngen gelingt ihm im Schnitt einer richtig gut, sagt Schuster, und das sei eben noch zu wenig. Und nun, im Wind von Lahti, hatte er eine selten schwierige Situation. Weil kurz zuvor Forfang den elf Jahre alten Schanzenrekord auf gefährliche 138 Meter verbessert hatte, verringerte die Jury die Anlauflänge um zwei Luken und damit auch die Gleitgeschwindigkeit. Der Wind blies massiv von hinten und verhinderte weite Flüge, weshalb nur ein optimaler Absprung den Schaden begrenzt hätte. Doch den erwischt man eben nur mit Gefühl und nicht mit brachialem Willen. Leyhe zuckte viel zu früh, kam gerade mal über den Vorbau, schlingerte - und landete im Anfängerbereich.

Es gebe Situationen, sagt Schuster, "da kann man sagen, was man will, der andere ist untröstlich und nimmt es nicht auf". Leyhe braucht etwas Zeit, um diesen Samstag in Lahti zu verarbeiten. Er und alle anderen Skispringer ziehen nun weiter, um bei der anstehenden Zehn-Tage-Tournee durch Norwegen immer weiter an ihrem Sprung zu arbeiten. Unter ihnen auch der Österreicher Gregor Schlierenzauer.

Der Weltcup-Rekordsieger war zuletzt das prominenteste Beispiel für die Launen der Skispringerperformance. Schlierenzauer war fast ein Jahr auf Form- und Sinnsuche, er hatte einen Kreuzbandriss auskuriert, stürzte dann wieder und ließ seinen WM-Start offen. Am Samstagabend stand er endlich mal wieder vor den Scheinwerfern und den Kameras. Er grinste, um den Hals hing ihm eine Bronzemedaille.

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