Um den Konflikt in aller Tiefe auszuloten, der am Wochenende zwischen dem FC St. Pauli und dem TSV 1860 München offen ausgebrochen ist, bedarf es einiger Herleitungen. Sonst ist die Motivlage nicht zu verstehen, die den St.-Pauli-Manager Andreas Rettig nach seiner Zweitliga-Dienstreise in den Süden folgendes Fazit ziehen ließ: "Wenn auf dem Altar des vielen Geldes Meinungsfreiheit und respektvoller Umgang mit Mitarbeitern, Medien und anderen Klubs auf der Strecke bleiben, dann gute Nacht, Fußballdeutschland."
Ohne juristisches Pro-Seminar stellt sich die Lage so dar: Fußballdeutschland erscheint derzeit als gespaltenes Land. Die Trennlinie verläuft entlang einer sogenannten 50+1-Regel. Diese versteht nicht einmal innerhalb des professionellen Fußballbetriebs jeder in Gänze, zumal sie vielfältige Chancen einer kreativen Interpretation zulässt. Etwas weiter gefasst bot diese Regel, die sich im Kern der Frage widmet, wem ein Fußballklub gehört und wem er gehören darf, auch einen Anlass dafür, dass es jüngst beim Erstliga-Spiel zwischen Borussia Dortmund (dessen Aktien an der Börse notiert sind) und RB Leipzig (das dem Salzburger Red-Bull-Konzern zuzurechnen ist) zu Krawallen kam.
Investor Ismaik braucht für sein Vorgehen lästige demokratische Mehrheiten
In der zweiten Liga sind St. Pauli und der TSV 1860 München die Antipoden dieser Eigentumsfrage, die mehr und mehr ins Ideologische reicht. In der Politik würde man der Einfachheit halber in links und rechts unterscheiden. Auf der linken Seite folgt St. Pauli der These, dass alle Macht vom Fan-Volk auszugehen hat und entwickelt daraus das eigene Folklore-Modell. Auf der rechten Seite hat Hasan Ismaik, der Investor aus Jordanien, den TSV 1860 im Jahr 2011 mit vielen Millionen vor der Pleite gerettet. Seitdem sucht er nach Rendite für das Investment - Ismaiks Hoffnung speist sich auch daraus, dass irgendwann die 50+1-Regel fallen soll, die es nur in Deutschland gibt. Diese besagt, kurz und knapp, dass - trotz aller kreativen Umgehungen - die letztgültige Entscheidungsmacht bei den von den Mitgliedern gewählten Vereinsvertretern zu verbleiben hat. Kurzum: Ismaik braucht für sein Vorgehen weiterhin lästige demokratische Mehrheiten.
Im Warten auf Rendite wirken Ismaik und die Löwen zunehmend gereizter. Beim rasanten Heuern und Feuern auf Geschäftsstelle, in Mannschaft wie Trainerstab, das sich vor Arbeitsgerichten fortsetzt, hatte man es bereits im Frühherbst schwer, den Überblick zu behalten. Nun kommt die sportliche Notlage hinzu, an den jüngsten Niederlagen waren, so teilt Ismaik in Trump'scher Manier exklusiv via Facebook mit, mal der Rasen (0:2 bei Union Berlin), mal Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus (1:2 gegen St. Pauli) schuld. Aufsichtsräte der Hamburger wurden zudem wegen exzessiven Torjubels in Ismaiks Nähe dazu gedrängt, die Plätze zu wechseln (was sie nicht taten). Und in dem seit Wochen schwelenden Konflikt mit den Medien wurde einer Bild-Journalistin die Akkreditierung verweigert, ihre Fragen vor dem Spiel blieben unbeantwortet.
Das alles summiert sich zu einem feudalen Tonfall in einer Stadt, die über Jahrzehnte mit dem FC Bayern und 1860 die schärfsten, bisweilen juristisch unterfütterten Debatten führte, in der eines aber nie gekappt wurde: ein Recht auf Berichterstattung aus dem Stadion. Passiert dies nun jedoch nach Gutsherrenart schon bei vergleichsweise marginalen Themen, dann kann man sich ausmalen, wie konfrontativ die Debatte werden dürfte, sollten die Löwen noch tiefer in den Abstiegskeller rutschen. Rettigs Fußballdeutschland wird ein Auge darauf werfen, bevor es gute Nacht sagt.