Konzert in München:Meister der Verletzlichkeit

Gidon Kremer an der Geige und Martha Argerich am Klavier begeistern in München. Es war, als gerieten die Klänge in dichter werdenden Nebel.

Von Harald Eggebrecht

Kaum zu glauben, dass es schon mehr als vierzig Jahre her sein soll, dass Gidon Kremer erstmals in München auftrat. Bei Martha Argerich soll es noch etwas länger her sein. Wie dem auch sei, der nun siebzigjährige Kremer erscheint, bis aufs Grau seines Haares, kaum verändert in seiner schlanken Gestalt und der unverwechselbaren, keiner altmeisterlichen Behaglichkeit gewichenen elektrisierenden musikalischen Nervosität. Und er bleibt weiter der Entdecker und Fährtensucher jenseits des vermeintlich Bekannten, gerade auch, wenn er sich Musik vertrauter Komponisten wie Franz Schubert, Robert Schumann oder Wolfgang Amadé Mozart widmet wie an diesem Abend in der Münchner Philharmonie. Mit dabei war auch sein vor zwanzig Jahren gegründetes Kammerorchester Kremerata Baltica. Nach der Pause kam die Grande Dame eines immer prägnanten, geschmeidigen, sich ins Furiose steigernden Klavierspiels hinzu: Martha Argerich. Die Argerich kennt sich neben Kremer auch mit den Empfindlichkeiten und spezifischen Eigenheiten anderer Geigensolitäre aus: So musiziert sie schon seit dem Pariser Mai 1968 immer wieder mit dem inzwischen 94-jährigen Violinguru Ivry Gitlis. Oder sie hat in Auftritten mit Itzhak Perlman gewissermaßen auch den Südpol des Geigenspiels der letzten fünfzig Jahre erkundet, wenn man Gidon Kremer gleichsam als den Nordpol begreifen kann.

Zu Beginn des Abends feierte sich erst einmal die Kremerata Baltica mit einer fesselnden Aufführung der 2. Sinfonietta op. 74, von Mieczyslaw Weinberg 1960 vollendet. Weinberg, 1919 in Warschau geboren, entging knapp den Polen überfallenden Nazis und floh in die Sowjetunion. Er stand lange im Schatten seines Freundes und Förderers Dmitri Schostakowitsch und war im Westen kaum bekannt. Doch Gidon Kremer rückte dann mit der für ihn typischen sanften Unbeirrbarkeit Weinberg ins Licht und spielte zahlreiche seiner Werke. Inzwischen gibt es eine internationale Weinberg-Gesellschaft, mitgegründet vom Augsburger Violinprofessor Linus Roth, der als erster alle Violine-Klavier-Kompositionen Weinbergs eingespielt hat.

Es war, als durchdringe ein Sonnenstrahl den Tremolo-Dunst

Die 2. Sinfonietta beginnt mit einem heftigen, aufgeregten, von Paukenschlägen durchsetzten Allegro. Dem folgen dann drei Sätze, in denen die Anfangsenergie gleichsam diffundiert in Dynamik, Tempo und Rhythmus. Die Musik verflüchtigt sich ins immer Langsamere, Leisere, Behutsamere, es ist, als gerieten die Klänge in immer dichter werdenden Nebel.

Schuberts C-Dur-Fantasie ist für Violine und Klavier konzipiert. Kremer bot sie in einer Bearbeitung von Victor Kissine mit Orchester, die beim Umlegen der Klavierstimme auf die verschiedenen Gruppen allerdings allzu zersplittert wirkt. Tief berührend aber, wie Kremer aus dem flirrenden Anfangspianissimo allmählich den Geigenton Klang werden lässt, so als ob ein erster dünner Sonnenstrahl den Tremolo-Dunst durchdringt. In diesem späten Stück Schuberts, geigerisch unangenehm, hat der Komponist auch seine Paganini-Erfahrung miteingebracht. Schubert war aufs tiefste vom Geiger aller Geiger ergriffen, als er ihn in Wien erlebte: "Ich habe die Stimme eines Engels gehört." Bei Kremer wurde die Fantasie zur Expedition in die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit dieser immer wehmütig sich sehnenden Musik.

Für Schumanns a-moll-Sonate dagegen fand der Geiger nun mit Martha Argerich einen feurig erregten Ton im Kopfsatz und im Finale. Höhepunkt aber war das Allegretto, eine Szene reiner Poesie, langsam sich drehend, manchmal zart trippelnd, hinreißend deutlich in der Artikulation und schwebend vor Elastizität. Victor Kissines Bearbeitung von Mozarts Flöten-Harfen-Konzert KV 299 für Geige und Klavier lässt man sich gern gefallen, wenn zwei Musiker dieses Ranges daraus ein Fest geistreichen Wechselspiels und freundschaftlichen Wettbewerbs machen. Riesenbeifall: Fritz Kreislers "Liebesleid" als Zugabe konnte süß-schmerzlicher nicht sein, weil da zwei wussten, was sie spielten. Alles endete mit einem drastischen Weinberg-Filmmusikfetzer.

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