Deutsche Gegenwartsliteratur:Was weh tut, muss gut tun

Das Dunkle in uns ist revolutionär, lehrt Roman Ehrlichs anarchischer Kinoroman "Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens". Wer mit dem Horrorfilm spielt, lebt gefährlich.

Von Fritz Göttler

Lakonisch kühn schraubt dieses Buch sich gleich zu Beginn in die Windungen des Hypothetischen. "Ich hatte mir vorher oft gedacht", erklärt der Erzähler - Moritz ist sein Name - in seinen ersten Sätzen, "dass ich gerne einmal in einem Horrorfilm mitgespielt hätte. Das war der Wortlaut meiner Gedanken: Ich hätte gerne einmal in einem Horrorfilm mitgespielt." Darum geht es dann auf den mehr als sechshundert folgenden Seiten - die Insistenz des hätte, um seine Bedeutung fürs Erinnern und Erzählen, und darum, welchen Wortlaut Gedanken haben können. "Ich stellte mir vor, als die Figur, die ich in dem Film spielen würde, einen aufwendig animierten, grausamen Tod zu sterben - von einem großen Ungeheuer in zwei Hälften gebissen zu werden oder von einem elektrischen Schock so verkohlt, dass nur noch mein Skelett und eine schwarze Kruste übrig bleiben würden."

Eine naive, kindliche Vorstellung, in der dennoch ein schönes intuitives Gespür fürs Kino und seine gesellschaftliche Funktion steckt. Wenn es dann um die Filmproduktion geht, die Konzeption und den Dreh, klingt das eher so, wie ein junger Moritz sich das Filmemachen vorstellt. Und doch ähnelt die Welt in Roman Ehrlichs neuem Roman derjenigen, die er in seinen Büchern "Das kalte Jahr" und "Urwaldgäste" skizziert hatte, mit ihren unnahbaren, beinah außerirdischen Figuren.

"Das schreckliche Grauen" heißt der Film, an dem Moritz gebeten wird mitzuarbeiten, von Christoph Raub, mit dem er einst an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Kultur- und Medienwissenschaft studierte. Zwei bürgerliche Jungs, mit dem Establishment unzufrieden, mit dem Drang, alles anders zu machen als die älteren Generationen. Christoph geht an die Hochschule für Fernsehen und Film, dreht einen "Fiesen Film", der auch so heißt, und sammelt dann Leute, die mit ihm das "Schreckliche Grauen" realisieren sollen. Eine alte deutsche Studententradition will, dass dies mit jeder Menge Gerede und Durchdiskutieren eingeleitet wird. Christoph lädt nach Ulm, das mit dem ICE in einer Stunde und vierzehn Minuten zu erreichen ist, ins Café Porsche.

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So entwickelt sich die Geschichte zwischen München mit seiner Junger-Deutscher-Film-Tradition, die Schlöndorff, Wenders, Herzog hervorbrachte, und Ulm, wo Alexander Kluge und Edgar Reitz Filmemachen lehrten an der berühmten Hochschule für Gestaltung. Im Café Porsche triff sich über viele Wochen das Horror-Team, um seine persönlichen Angsterfahrungen zu kommunizieren. "Angstsitzungen" nennt Christoph das, die Suche nach dem Stoff für seinen Film.

Solches Vorgehen hat mit der Profession des Filmemachens wenig zu tun, die Veranstaltungen erinnern eher an Selbsthilfegruppen oder an eine Sekte, mit Christoph als charismatischem, also auch sehr launenhaftem Propheten. Der geplante Film wird schnell zu einer Art Vorwand.

Die Schrecken aus dem Leben der Teilnehmer - viele scheinen Amateure zu sein, einige haben eine professionelle Karriere hinter sich, bei der Lisa Film von Karl Spiehs oder beim Softpornoregisseur Mackie Metzler - sind, was ihre filmische Dimensionen angeht, eher banal, manchmal auch klischeehaft. Allenfalls Katja erreicht in ihren Erzählungen unangenehme Körpervisionen wie bei David Cronenberg. Auch physisch erreicht die Selbsterforschung schnell die Körper, als Christoph einen Koffer mit Folterinstrumenten anschleppt. Meist wird nach den Sitzungen noch ein Film gezeigt, anfangs "L'aldilá/The Beyond" vom Meister des italienischen Splatterhorrors, Lucio Fulci, dann aber auch Klassiker wie "Blair Witch Project", "O Território" von Raoul Ruiz oder "Einer flog übers Kuckucksnest". Und einige andere erfundene, aber lustvoll imaginierte Filme. "Schreibend", sagt Roman Ehrlich, "mache ich eigentlich keinen Unterschied mehr zwischen einer Beobachtung auf der Straße oder einem Film oder Theaterstück, das ich einmal gesehen habe. Ich würde eine solche Unterscheidung auch als sehr künstlich und gewaltvoll empfinden."

"Der Schmerz hat mir die Tür aufgeschlossen und mich mir selbst nähergebracht."

Es ist viel Propaganda im Spiel bei dieser ersten Phase des Projekts, Christoph ist rhetorisch versierter als filmtechnisch: "Ich habe gesagt, der Schmerz hat mir die Tür aufgeschlossen und mich mir selbst nähergebracht. Warum glaube ich das? Weil ich verstanden habe, was Schmerzen bedeuten und was ihre Schönheit ausmacht und ihre große Kraft. Unsere Schmerzen sind unsere Geheimnisse ... Sie bringen uns an einen Ort in uns, der nicht mehr auf der Karte des Bekannten eingezeichnet ist. Und zwar, weil sie das ultimative Paradox unseres Lebens sind. Der Schmerz ist die stärkste Erfahrung von Fremdheit, die man mit dem eigenen Körper machen kann." Die Dialektik von Fremdheit, Schmerz und Angst, die Christoph entwickelt, hat großes Verführungspotenzial. Das Fremde erregt im Ich das Verlangen nach Auflösung. "Wenn es irgendwann die Überhand über unser Bewusstsein gewinnt, werden wir entweder wahnsinnig oder sterben." Sätze wie diese hat man aus dem klassischen amerikanischen Horrorkino der Vierziger in Erinnerung, gesprochen mit den sanften Stimmen von Boris Karloff oder Bela Lugosi.

Einen großen Teil der PR-Arbeit besorgt der Erzähler Moritz, der die Erzählungen der Teammitglieder in einen extrem ziselierten, intellektuellen Monosound umwandelt. Seine eigene Geschichte bietet einen sehr gewöhnlichen, fast grotesken Schrecken. Da wacht er morgens auf oben in einem Stockbett in einem Hostel in Lissabon, einen blutroten Fleck am Bauch - der Vortag war schrecklich konfus, zwei Portugiesen haben ihn im Bairro Alto ausgeraubt, die junge Amerikanerin Greta hat ihn abends mit ihren Freunden mitgenommen, ist dann nachts zu ihm hinaufgeklettert. Von ihr ist das Blut, sie wird an diesem Tag heimfliegen, aber sie hat noch die Bettlaken gewechselt, ihr sauberes gegen sein blutiges.

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Roman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 640 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Im zweiten Teil wechselt der Schauplatz von Ulm nach Thüringen, die Heimeligkeit der kreativen Therapieabende schwindet, man fährt durchs Land, macht vereinzelt Aufnahmen, ansonsten gibt es jede Menge mühseliges, regnerisches Camping in freier Natur, eine angezündete Scheune, Christoph wird unberechenbar, viele setzen sich ab. Diese Entwicklung hat Vorbilder im Kino, zwei Filme, die den Stand des Filmemachens Anfang der Achtziger reflektierten, in ihrer Entstehung geheimnisvoll aufeinander bezogen, "O Território" von Raoul Ruiz und "Der Stand der Dinge" von Wim Wenders.

Die Dekonstruktion, die Zersetzung, die das Horrorkino anvisiert, wendet Christoph in einem letzten großen Auftritt in einer Kirche dann ins Apokalyptische und Revolutionäre, in eine Rede vom Weltgebäude herab gewissermaßen. "Selbstermächtigung ist die Erkenntnis, dass uns gar nichts gehört, egal wie lange wir darauf gespart haben. Uns gehört nichts als das Geheimnis, das Wissen um das Dunkle. Es gibt für uns keinen Besitz und keine Gewissheit außerhalb der Schmerzen ... Das Dunkle in uns ist revolutionär, weil es anarchisch ist. Die Angst kennt nur die eine unumstößliche Autorität ihres eigenen absoluten Seins. Alles andere an ihr ist Vieldeutigkeit, Chaos, Unsicherheit und damit die unausgesprochene Einladung zum kreativen Schaffen, zur Neugründung der Welt."

Was als kleine bürgerliche Erzählung begann, entwickelt sich langsam aber unausweichlich zur Revolution. Ein schmerzhafter Prozess. Von der Kontemplation des Kinos zur Action.

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