Brexit-Kolumne (VII):"Leave." "Remain." "Leave."

Britannia Brexit-Kolumne

Britannia

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Das Theaterstück "My Country" zitiert britische Wähler, die über den Brexit abgestimmt haben. All das in komprimierter Form ist aufwühlend. Manchen Zuschauern ist zum Heulen zumute.

Brexitkolumne von Alexander Menden, London

In diesem Monat will die britische Regierung die Ausstiegsverhandlungen mit der EU eröffnen. Unser Londoner Kolumnist beschreibt, wie der bevorstehende Brexit jetzt schon den Alltag verändert.

Allzu oft geschieht es nicht, dass sich einem Kritiker im Theater so die Kehle zuschnürt wie im Dunkel des Zuschauerraums des National Theatre beim Stück "My Country".

Dabei machen die Schauspieler nichts weiter, als Menschen zu zitieren, die sagen, wie sie im EU-Referendum abgestimmt haben: "Mein Mann und ich haben für 'Out' gestimmt." "Ich habe dafür gestimmt, die EU zu verlassen." "Ich habe gar nicht gewählt, und fühle mich jetzt wie ein Arschloch." "Ich habe für Remain gestimmt." "Ich war für den Brexit." "Natürlich haben wir dafür gestimmt, drinzubleiben." "Leave", "Remain." "Leave", "Leave", "Leave." In diesem Moment gibt man jede Distanz auf und denkt nur noch: Mit euren Entscheidungen müssen wir jetzt leben. Es ist wirklich zum Heulen.

Der Abend ist ein Flickenteppich aus Zitaten der britischen Wähler

Der Dramatiker Tom Stoppard sagte kürzlich, der Brexit sei "zu groß" für die Bühne. Er fühle sich angesichts dieses Themas "ganz mickrig". Ein erstaunliches Eingeständnis vom großen alten Mann des britischen Theaters, selbst Immigrant. Aber auch verständlich. Wenn man so lange wie Stoppard mit den großen Ideen der Gegenwart gerungen hat, weiß man: Nur zeitlicher Abstand ermöglicht die für einen großen Wurf nötige Draufsicht.

Dieser Abstand zum EU-Austritt fehlt natürlich. Daher kann ein Brexit-Drama jetzt noch gar nicht gelingen, und vieles an "My Country" ist nicht gelungen.

Rufus Norris, der Chef des National Theatre, und die Dramaturgin Carol Ann Duffy haben aus Interviews über das Referendum mit Menschen aus allen Teilen des Vereinigten Königreichs einen anderthalbstündigen Flickenteppich aus Zitaten, Meinungen und Argumenten zusammengesetzt.

Neun Schauspieler, welche die Regionen repräsentieren, und eine Darstellerin als Britannia, mythische Inkarnation der Insel, tragen diese Zitate vor und kommentieren sie gelegentlich. Das ist manchmal albern, manchmal kitschig. Aber es hat den Vorteil, dass das durchgehend EU-freundliche Londoner Publikum auch mal die Stimmen der Provinz hört, die sonst in der Hauptstadt kaum eine Rolle spielen.

Aufwühlendes Brexit-Drama

Was man da erfährt, entspricht oft den schlimmsten Befürchtungen: "Sie kommen her, um von unseren Sozialleistungen zu leben." "Mörder und Vergewaltiger aus anderen Ländern kommen hierher, das macht mich so wütend!" Die Menschen sagen aber auch empathische Dinge wie: "Es muss ganz schön ungemütlich sein, wenn einem das Land, in dem man lebt, sagt: "Geh nach Hause. Das Land, nicht eine Person. Das Land." All das in so komprimierter Form präsentiert zu bekommen, ist erstaunlich aufwühlend.

Es ist ja nicht so, dass man nicht gewusst hätte, welche Ressentiments unter der Oberfläche brodeln. Die meisten Briten waren widerwillige EU-Bürger. Aber sie hatten sich 1975 nun einmal mit großer Mehrheit entschieden einzutreten, und das war's - dachte man. Aber dann versprach David Cameron aus parteiinternen Machterwägungen ein Referendum, verlor es, und ging. Während er nach seiner Rücktrittsrede zur Tür von 10 Downing Street zurückschlenderte, trällerte er ein Liedchen.

Als Britannia, die auch den Part aller Politiker übernommen hat, im National Theatre dieses "Du-du-du-duh!" anstimmt, sagt eine Frau im Publikum ganz leise: "That Fucker!"

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