Das deutsche Valley:Online nach 243 Jahren

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Die deutschen Mittelständler haben schon vieles überstanden: Kriege, Revolutionen, Erbstreitigkeiten. Was ist dagegen die Digitalisierung?

Von Ulrich Schäfer

Wenn man die deutsche Wirtschaft besser verstehen will, hilft oft der Blick von außen. Jeffrey Fear hat diesen Blick. Er lehrt Unternehmensgeschichte an der Universität Glasgow in Schottland, und sein wichtigstes Forschungsfeld ist der deutsche Mittelstand. Ihn fasziniert, wie diese Familienunternehmen seit Generationen fortbestehen, wie es immer wieder zu Brüchen kommt - und danach ein völlig anderes Unternehmen entsteht, mit neuer Technologie, verändertem Geschäftsmodell; und doch beruht es stets auf den gleichen Familienwerten. "Kontinuität und Diskontunität" nennt Fear dieses Phänomen, den Wechsel zwischen Altbewährtem und Neuem.

Nun aber erlebt der "German Mittelstand" den größten Bruch seit Langem: die Digitalisierung. Dieser Bruch vollzieht sich hastig und schnell, und man kann durchaus ins Grübeln kommen, wenn man all jene Studien liest, die zu belegen scheinen, dass der deutsche Mittelstand die Digitalisierung verschlafen und bis jetzt nicht begriffen hat, worum es geht. Dieser Pessimismus basiert auf der Annahme, dass Start-ups oder Firmen wie Google alles können, selbst die Herstellung kompliziertester Maschinen und Produkte - und dass derjenige am Ende gewinnt, der am lautesten trommelt, also das Silicon Valley.

Aber ist das wirklich so?

Eine Antwort darauf findet sich in der Forschung von Jeffrey Fear: Sie liefert nicht bloß eine Momentaufnahme, wie kurzfristige Umfragen; sondern der Blick reicht über die Jahrhunderte. Und siehe da: Die deutschen Mittelständler sind viel besser als zum Beispiel die small and medium-size enterprises der Amerikaner; sie halten länger durch, haben Kriege überstanden, Revolutionen, Erbstreitigkeiten, sie sind internationaler und haben es in sehr viel mehr Nischenmärkten zur Weltmarktführerschaft gebracht.

Ein Beispiel dafür ist der Schuhhersteller Birkenstock, gegründet 1774. Dieses 243 Jahre alte Familienunternehmen hat sich lange, viel zu lange nicht um die Digitalisierung gekümmert. Warum auch? Birkenstock produzierte zuletzt 20 Millionen Paar pro Jahr und ist seit Jahren ausverkauft; die Kunden sind extrem loyal; und außerhalb von Deutschland, wo Birkenstock ein biederes Öko-Image anhaftet, gelten die Sandalen als richtig trendy.

Dennoch versucht Birkenstock nun, sich zu einem digitalen Unternehmen zu wandeln. Denn irgendwann haben sie in Neustadt (Wied) in Rheinland-Pfalz, wo der Schuhhersteller Zuhause ist, begriffen, dass sie ihre Kunden gar nicht kennen - und sich nun, mit der Digitalisierung, die Chance bietet, dies zu ändern. Denn wer im Netz kauft, hinterlässt Daten, und diese ermöglichen es, die Kundenwünsche sehr viel besser zu verstehen und zu bedienen: Welche Farben, welcher Stil kommt an? Und was interessiert die Kunden sonst?

Birkenstock hat dazu - erster Schritt - einen eigenen Online-Shop aufgesetzt; erstmals vertreibt die Firma ihre Produkte nun auch selbst, nicht bloß über Großhändler. Birkenstock hat dazu - zweiter Schritt - ein eigenes Digital-Team gegründet, das ganz bewusst nicht in der Zentrale sitzt, sondern 600 Kilometer entfernt davon, unweit der Münchner Prinzregentenstraße.

Erstmals kennt die Firma nun ihre Kunden. In den USA sind es eher die Anhänger von Bernie Sanders

Sascha Rowold leitet dieses firmeneigene Start-up, ein Mann mit sehr viel Erfahrung im Online-Handel und bei High-Tech-Firmen. 40 Leute hat er in München um sich geschart, Marketing-Experten, Software-Entwickler. Zehn weitere sitzen in New York und ein knappes Dutzend in Tokio, Seoul, Shanghai und Hongkong - sie betreuen von dort aus das Online-Marketing für die USA und Asien, wo Birkenstock jeweils ein Viertel seines Umsatzes macht.

Wenn schon digital, dann global: Das ist der Ansatz bei Birkenstock. Er entspricht dem, was Jeffrey Fear als Stärke deutscher Mittelständler ausgemacht hat: Sie haben ihr Geschäft konsequent internationalisiert, sind vor zwei, drei Jahrzehnten hinausgezogen in die Welt. Das hat daheim, anders als zum Beispiel bei US-Firmen, keine Jobs gekostet, sondern diese eher gesichert. Und so könnte es, glaubt Fear, nun auch bei der Digitalisierung gehen.

Sascha Rowold macht dazu eine simple Rechnung auf: Seine Digital-Einheit wird, so das mittelfristige Ziel, zwar erstmal nur zehn Prozent des gesamten Umsatzes von Birkenstock liefern, aber rund 40 Prozent des Gewinns. Denn die Marge ist sehr viel höher, wenn die Sandalen nicht über mächtige Großhändler vertrieben werden, die den größten Teil des Gewinns abgreifen, sondern direkt über den eigenen Online-Shop.

Vor allem aber kennen sie bei Birkenstock nun ihre Kunden sehr viel besser, 13 Millionen haben ihre Spuren auf der Website hinterlassen. Die Käufer in den USA zum Beispiel sind eher Bernie-Sanders-Anhänger, sie lieben Komfort, Werte, Handwerk, lassen sich nichts vorschreiben, leben naturnah und sehr bewusst. Man kann das weiter runterbrechen, in noch kleinere Gruppen, und jede dieser Kundengruppen versorgt Birkenstock nun mit individuellen Newslettern, die speziell auf die Klientel angepasst sind.

Solche Beispiele wie Birkenstock findet man in Deutschland immer häufiger, und deshalb setzen inzwischen auch amerikanische Internetkonzerne wie Google oder Salesforce auf die deutschen Familienunternehmen. Harald Esch, der bei Salesforce das Geschäft mit ihnen betreut, ist davon überzeugt, dass die deutschen Familienunternehmen "die digitale Transformation problemlos schaffen" können. Auf der Cebit in der kommenden Woche widmet sich Salesforce deshalb vor allem einem Thema: dem "German Mittelstand".

Auch Jeffrey Fear glaubt, dass in Deutschland ein sehr starker Internet-Mittelstand entstehen kann. Seine Forschung jedenfalls zeigt: "Der deutsche Mittelstand versteht es, sich immer wieder neu zu erfinden."

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