Leipziger Buchmesse:Reisen ins Neue

Leipziger Buchmesse: Der Mond ist bewohnt, berichtete 1835 Richard Adams Locke in der New York Sun, und zwar von geflügelten Fledermausmenschen. Im Jahr darauf erschienen die Berichte als Buch. Das Bild einer Rückkehr entstammt der Neuauflage.

Der Mond ist bewohnt, berichtete 1835 Richard Adams Locke in der New York Sun, und zwar von geflügelten Fledermausmenschen. Im Jahr darauf erschienen die Berichte als Buch. Das Bild einer Rückkehr entstammt der Neuauflage.

(Foto: Das Kulturelle Gedächtnis)

Die schönste Gründung seit Langem - ein Besuch bei den Machern des Verlages "Das kulturelle Gedächtnis".

Von Alex Rühle

Eigentlich war der Plan für den Messefreitag, zuerst Antonia Baum anzuhören. "Renaissance der Popliteratur oder literarischer Voyeurismus", da geht der Tag doch mit einer absolut jetzigen Frage los. Im Anschluss rüber zu Ronja von Rönne, die ist per se drängend und jetzig. Um 12 liest dann Karl Heinz Bohrer aus seinen Erinnerungen an noch viel drängendere Zeiten, damals als noch Geist war und Habermas und wirkliche Debatte. Kurzum, es sollte alles extrem Jetzt & Pop plus Bohrer & Fantasie werden.

Doch dann kam alles anders. Und viel besser. Weil der Weg zu all dem Betriebsgenudel zufällig über einen abgelegenen Stand führte, Halle 5, H 213. Da sitzen zwei Männer rum, denen die schönste Verlagsgründung seit Langem gelungen ist. Sie selbst sitzen viel zu still an ihrem Stand, als dass sie solche Dinge je behaupten würden. Umso lauter sollte man es sagen.

Wobei - wenn man hört, dass jemand seinen Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" nennt, könnte sich sofort Präpotenzverdacht einstellen. Wenn man die beiden aber sieht, bricht dieser Verdacht gleich wieder in sich zusammen. Sie wirken eher so, als würden sie still am Pullisaum des Lebens knispeln. Tobias Roth ist Lyriker und Übersetzer, Peter Graf war früher Lektor, dann hat er selber angefangen Bücher zu verlegen, Walde und Graf ist vielen bekannt, Metrolit auch. Jetzt also "Das kulturelle Gedächtnis". Vier Bücher pro Saison, alles Ausgrabungen, Verschwundenes, Vergessenes, das in unsere Zeit passt.

Schönes Beispiel dafür, wie das gemeint ist: Gottlieb Mittelbergers "Reise in ein neues Leben" kreuzt diametral durch unsere Flüchtlingsdebatte, erzählt hier doch ein Deutscher davon, wie das ist, wenn man wegmuss, sich in die Hände von Schleusern begibt, die tödliche Überfahrt wagt und dann am Ankunftsort feindlich angesehen wird. Mittelberger war einer von 200 000 Deutschen, die im 18. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, die meisten von ihnen Wirtschaftsflüchtlinge, "anhoffend bessrer Nahrung willen."

Mittelbergers Traktat aus dem Jahr 1754 enthält frappierend Bekanntes vor. Im Hafen von Rotterdam, wo die Auswanderer aus ganz Europa zusammenströmten, muss es ähnlich zugegangen sein wie heute an der libyschen Küste. Monatelanges Warten, kriminelle Schlepper, die den Leuten das letzte Geld abknöpfen, Kapitäne, die ihre menschliche Fracht auf verrotteten Kähnen unter Deck zusammenpferchen, eine wochenlange Überfahrt mit viel zu wenig Proviant: "Kinder von 1 bis 7 Jahren überstehen die See-Reise selten, und müssen die Eltern ihre Kinder manchmal durch Mangel, Hunger, Durst elendiglich schmachten, sterben und ins Wasser geworfen sehen. Ich habe solchen jämmerlichen Zustand an 32 Kindern gesehen, die man ins Meer versenket hat."

In Pennsylvania dann wurde Mittelberger als Deutscher scheel angesehen: Die Engländer befürchteten aufgrund der vielen neu ankommenden Deutschen eine "Germanisierung" ihres Landes, der damalige Gouverneur malte "sehr gefährliche Konsequenzen" an die Wand: all diese Menschen, "die mit unserer Sprache und Verfassung nicht vertraut sind" und sich in Parallelgesellschaften abschotten.

Benjamin Franklin empörte sich, dass viele Engländer gezwungen seien, "ihre Wohngegenden zu verlassen, weil sie sich dort aufgrund der abstoßenden, ungehobelten Manieren der Deutschen nicht mehr wohl fühlen". Die letzten beiden Zitate stammen nicht aus Mittelbergers Text, sondern aus dem Vorwort. Die Bücher wurden von den Verlegern wunderbar ins Hier und Jetzt begleitet.

Und sie wurden noch viel wunderbarer aufgemacht. Hier spricht einer, der Bücher eher als Gebrauchsgegenstände sieht, oft in Rezensionsexemplaren rumkritzelt, Eselsecken in die Seiten macht und Schrift-Typen nicht auseinanderhalten kann. Aber das hier, das ist von solcher Eleganz! Jedes Buch in einer anderen Type. Die Seiten sind oben in der Farbe des jeweiligen Covers getönt und die Cover selbst sind mit ihrer Prägeschrift so schön anzufassen, dass Peter Graf den versonnen vor sich hinstreichelnden Besucher irgendwann von der Seite fragte, ob er ihm vielleicht auch noch sagen solle, was drinsteht in dem Buch.

Das von der Aufmachung her schönste Buch ist Auftakt zu einer eigenen Reihe namens "Gegenschuss - Denken in entgegengesetzten Richtungen": Es beinhaltet jedesmal zwei Bücher in einem. Das eine beginnt man von vorne. Das andere von hinten, man muss es dazu kippen. Diesmal duellieren sich der große Diplomat Jules Cambon und der stolze Adelige Franz von Bolgar. Cambon schrieb "Der Diplomat", eine Anleitung, wie man noch die verfahrensten Konflikte auf dem Weg der umsichtigen Verhandlung löst, Bolgar verfasste "Die Regeln des Duells", einen Codex für für den Ehrenmann des 19. Jahrhunderts.

Peter Graf hat in unseren Fake-News-Zeiten die erste große Zeitungsente wiederentdeckt. Der New Yorker Journalist Richard Adams Locke hatte 1835 mitbekommen, dass der berühmte Astronom Sir John Herschel nach Südafrika gereist war, um mit den modernsten Teleskopen seiner Zeit den südlichen Sternenhimmel zu erforschen. Locke nutzte den Umstand, dass Herschel am Kap der Guten Hoffnung völlig von der Welt abgeschnitten war und ihm fürs Erste nicht widersprechen konnte; er veröffentlichte in der New York Sun fünf Texte über die angebliche Entdeckung Herschels. Auf dem Mond gab es Leben. Ziegenartige Wesen, Bisons und vor allem "die höchst überlegen Spezies des Fledermausmenschen", die auch gleich einen wissenschaftlichen Namen bekamen: Vespertilio-homo. Lockes vermeintliche Entdeckung schickte Schockwellen um die Welt, die Sensation wurde allerorten nachgedruckt und es dauerte mehrere Wochen, bis die Sun einräumte, dass das Ganze frei erfunden war.

Den literaturgeschichtlich wichtigsten Text steuert der Lyriker Tobias Roth bei, indem er Voltaires Tragödie "Der Fanatismus des Mohammed" neu übersetzt. Das religionskritische Stück, das sich im Gewand der Islamkritik gegen religiöse Hartleibigkeit und Glaubensheuchelei richtet, war in Frankreich ein so großer Publikumserfolg, dass es die katholische Kirche mit der Angst zu tun bekam und es verbieten ließ. In Deutschland floppte es - was zumindest zu Teilen Goethes Schuld war: Er hatte das Ganze selbst übersetzt, in freien Reimen statt Alexandrinern. Und er hatte es dabei auch noch so verkürzt, dass Voltaires zentraler Kommentar zum eifernden Fanatismus völlig eliminiert wurde. So kam er im kulturellen Gedächtnis der Deutschen bisher nicht vor. Wie gut dass es jetzt ein neues kulturelles Gedächtnis gibt.

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