Theater:Wie geht es dem  Rest der Welt?

Find Festival

Eindrücke aus Mexiko: Gabino Rodríguez in "Tijuana".

(Foto: Escensas do cambio)

Eine US-Familie diskutiert am Küchentisch, ein Performer aus Mexiko recherchiert in der Fabrik: Das internationale FIND-Festival an der Berliner Schaubühne sucht das Politische in Einzelschicksalen und kreist um Verlierer.

Von Mounia Meiborg

Die Gabriels sehen nicht wie Verlierer aus. Sie sitzen am Küchentisch, schneiden Kartoffeln und reden über Biogemüse. Sie leben in Rhinebeck, einem kleinen Ort nördlich von New York City, und gehören zur weißen Mittelschicht. Aber es liegt ein Unbehagen in ihren Gesprächen. Mal reden sie über die Rechnung fürs Altersheim ihrer Mutter, die sie nicht bezahlen können. Mal über die reichen New Yorker, die nach Rhinebeck ziehen und die Preise in die Höhe treiben - und darüber, dass sie sich in ihrer Heimat nicht mehr zu Hause fühlen.

Der Autor und Regisseur Richard Nelson verfolgt in seiner Trilogie "The Gabriels - Election Year in the Life of one Family" die fiktive Ostküstenfamilie über das Wahljahr 2016 hinweg. Die drei Teile hatten in New York jeweils an dem Abend Premiere, an dem sie spielen - der letzte Teil am Wahlabend im November, als weder die Schauspieler noch die Zuschauer wussten, wer gewinnen würde.

Nun sind die drei Teile beim Festival Internationale Neue Dramatik (Find) an der Berliner Schaubühne zu sehen. Und inzwischen, aus der zeitlichen Distanz, wirken sie wie Ursachenforschung. Was ist da schiefgelaufen? Warum? Und wenn es einer Mittelschichtfamilie in einem der reichsten Länder schlecht geht, wie geht es dann dem Rest der Welt?

Die Zuschauer werden ignoriert, die Darsteller bereiten Ratatouille und Apple Crumble zu - 14 Mikrofone über die Bühne erlauben Intimität

"Demokratie und Tragödie" lautet in diesem Jahr das Motto des Festivals. Das ist ein bisschen hochtrabend. Scharfe Analysen zu Demokratieverlust, sozialer Ungleichheit und Rechtspopulismus waren bislang - das Festival läuft noch bis Sonntag - nicht zu sehen. Aber dafür viele Abende, die vom Einsickern der Politik ins Private erzählen. Und die dazu gesellschaftliche Verlierer in den Mittelpunkt rücken.

Richard Nelson setzt dabei auf Hyperrealismus. Sechs Schauspieler bereiten in einer detailreich ausgestatteten Küche Ratatouille und Apple Crumble zu. Dass die Zuschauer, die an drei Seiten um die Bühne herum sitzen, ignoriert werden, mutet im deutschen Regietheater-Kontext erst mal befremdlich an. Aber es hilft vielleicht der Konzentration auf die Geschichte. 14 Mikrofone hängen über der Bühne und erlauben Intimität. Die Figuren erzählen Anekdoten von früher, diskutieren Hillary Clintons Position zum Irak-Krieg und die Frage, ob man Zucchini besser halbiert oder viertelt. Selbst Banales dient bei Nelson der Figurenzeichnung. Gezeigt wird ein eindringliches Tableau eines Milieus, das von Abstiegsangst gelähmt und politisch verunsichert ist. Sie alle sind Demokraten, und damit Wahlverlierer.

Wie es jenseits der vom Wahlsieger Donald Trump avisierten Mauer zugeht, zeigt die Arbeit "Tijuana"; benannt nach jener Region im Norden Mexikos, in der die stranden, die es nicht in die USA schaffen. Die Sorgen der Gabriels würden hier als Luxusprobleme durchgehen. Millionen Menschen arbeiten für den Mindestlohn, knapp 3,50 Euro am Tag.

Ein Schauspieler schaut sich die Armen an - könnte zynisch sein, ist aber aufrichtiges Interesse

Der Schauspieler Gabino Rodríguez wollte verstehen, wie sie leben und machte einen Selbstversuch, den er in seiner Performance reflektiert. Mit falschem Namen, Schnurrbart und Perücke wurde er für sechs Monate zu einem Fabrikarbeiter. Es ist eine teilnehmende Beobachtung unter verschärften Bedingungen: Um 5.35 Uhr klingelt der Wecker, 10 Stunden Maloche. In guten Wochen hat er samstags noch Geld, um ein Bier trinken zu gehen, gemeinsam mit den immer gleichen Männern.

Es hätte ein zynisches Unterfangen werden können - ein Schauspieler schaut sich mal die Armen an. Aber schon die Länge seines Aufenthalts deutet auf aufrichtiges Interesse hin. Und Rodríguez weiß wie jeder gute Ethnologe, dass seine Ergebnisse mindestens so viel über ihn, den Beobachter, aussagen wie über den Gegenstand der Beobachtung.

Auf der Bühne kommentiert, dokumentiert und spielt er den Selbstversuch. Auf einer Videoleinwand sind Tagebucheinträge, Fotos und verwackelte Videos zu sehen. Rodríguez nimmt verschiedene Rollen an: die des Vermieters, des Vorarbeiters, des schweigenden Kumpels. Seine Sprache verändert sich; die Gesten werden ausschweifender. Etwas vermeintlich Individuelles - die Art, wie jemand spricht - erweist sich als Signum der sozialen Schicht.

Rodríguez, der das Stück gemeinsam mit dem Kollektiv Lagartijas tiradas al sol entwickelt hat, kommentiert sein eigenes Verhalten. Etwa, dass er einen leicht infantilen Ton anschlägt, wenn er mit Menschen aus der Unterschicht spricht. Es entsteht eine Erzählung, die im doppelten Sinn traurig ist: Weil die Rolle, die Rodríguez ein paar Monate spielte, für andere das Leben ist. Und weil der Abend um die Vergeblichkeit seiner Bemühung weiß.

Manches missglückte beim Find-Festival auch gründlich. Wie die Eröffnung der spanischen Radikal-Performerin Angélica Liddell, die diesmal das Schaubühnen-Ensemble auf der Bühne schreien, rennen und masturbieren ließ - wahlweise zur Erheiterung oder Ermüdung des Publikums. Überhaupt, das Publikum: lauter schöne, junge Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Wenn auf der Bühne - wie bei "Tristesses" - vom grassierenden Nationalismus in Europa die Rede ist, sind diese Zuschauer der beste Gegenbeweis.

"Tristesses" spielt auf einer dänischen Insel, auf der nur noch acht Menschen leben. Nach einem Selbstmord taucht die Mutter der Toten auf, Vorsitzende einer rechtsextremen Partei und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidatin. Sie erpresst die Inseleinwohner, um auf der Insel Imagefilme zu drehen. Die belgische Autorin und Regisseurin Anne-Cécile Vandalem schert sich nicht um Genregrenzen: Ihr Stück changiert zwischen Gruselmärchen, Zombie-Musical und Dogma-Film. Formal ist es beeindruckend, wie Vandalem, die zugleich die Politikerin spielt, Licht, Video und Sound einsetzt. Auf der Bühne blaues Dämmerlicht. Was die Figuren im Inneren ihrer Hütten treiben, ist auf körnigen, braunstichigen Videos zu sehen. Und die Musik-Arrangements erreichen mit minimalen Mitteln große Wirkung.

Jobs und Geld sind weg, zurück bleiben Menschen, die sich gegenseitig quälen. Am Schluss unterwerfen sich alle der Politikerin. Wie genau das geschieht, zeigt Vandalem nicht. Hier bleibt sie eine Spur zu harmlos. Dafür hat sie einen sehr eigenen Sinn für Skurriles. Neulich, sagt eine der Inselbewohnerinnen verängstigt, habe sie einen Ausländer im Meer entdeckt. Es sei dann aber doch nur eine Seerobbe gewesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: