Opferschutz:Mobbing in der Schule: Bis Hilfe kommt, dauert es oft Monate

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  • Der Münchner Stadtrat hat sich von Experten über das Thema Mobbing an Schulen informieren lassen.
  • Anlass war der Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum vor einem Jahr. Der Täter, selbst ein Mobbing-Opfer, hatte neun Menschen und danach sich selbst getötet.
  • Beunruhigend: Die Zahl der Schüler in München, die von den Schikanen krank werden und in ärztliche Behandlung müssen, nimmt stetig zu.

Von Melanie Staudinger, München

Erst ist es nur die Kleidung, die den Mitschülerinnen nicht passt. Dann beschimpfen sie Anna (Name geändert) als dumm und dick. Wenn sich die 13-Jährige im Unterricht meldet, ärgern die anderen Fünftklässlerinnen sie. Die Mutter spricht mit der Lehrerin. Die Schikanen dauern an. Wenn Anna aus Angst daheim bleibt, kommen die Drohungen per Handy. "Du bist hässlich, dreckig und du stinkst", behaupten die Mädchen. So lange, bis Anna krank wird.

Bauchschmerzen, Kopfweh und Übelkeit quälen die Jugendliche. Weitere Gespräche, Mahnungen und Strafen helfen nicht. Eineinhalb Jahre später diagnostizieren die Ärzte bei Anna eine depressive Störung, sie stellen eine Schlaf- und eine Angststörung fest, ein vermindertes Selbstwertgefühl und Suizidgedanken.

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Mobbing sei ein "wirklich ernst zu nehmendes Phänomen", sagt Gerd Schulte-Körne, der Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität, wo Anna behandelt wurde. Ihr Fall, den der Professor am Donnerstag bei einer Anhörung des Stadtrats zum Thema "Mobbing an Schulen" vorträgt, stellt kein Einzelfall dar. Nach Studien ist mehr als jeder zehnte Deutsche zwischen elf und 17 Jahren von Mobbing betroffen. Drei bis acht Prozent aller Elf- bis 20-Jährigen mussten Cybermobbing in sozialen Medien und per Smartphone-Chat hinnehmen. Die Zahl der Opfer, die von den Schikanen krank werden und ärztliche Hilfe brauchen, nimmt in München stetig zu, wie Schulte-Körne berichtet.

Ein Blick in aktuelle Studien zeigt: Beschimpfungen, Hänseleien, Prügel und Ausgrenzung sind längst keine Probleme mehr, die nur in Mittelschulen an sozialen Brennpunkten auftreten. Sie sind an allen Schularten zu finden, von der Grundschule bis zum Gymnasium. "Der Hauptfokus beim reinen Mobbing liegt in der Grundschule und bei Jungen", sagt Schulte-Körne. Höher gebildete, ältere Mädchen hingegen würden öfter Opfer von Cybermobbing.

Allen gemeinsam ist: Hänseleien und Gewalt schädigen nicht nur die Psyche, auch die schulische Entwicklung ist gefährdet, weil sich die Opfer nicht mehr in den Unterricht trauen und zu oft fehlen. "Es besteht ein extrem deutlicher Handlungsbedarf", sagt Schulte-Körne.

Angeregt wurde die Anhörung nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum; der Täter war laut Polizei über Jahre hinweg gemobbt worden, was ein wesentliches Motiv für die Tat gewesen sein soll. Von den Experten will sich der Stadtrat über die richtigen Strategien zur Mobbing-Bekämpfung informieren lassen. Und schnell wird klar: Angebote, sei es zur Prävention oder gleich zum Eingreifen, gibt es bereits in München. Alleine am Arbeitskreis "Gewaltprävention an Schulen" beteiligen sich 13 Anbieter aus dem Bereich der Jugendhilfe.

Das pädagogische Institut des Bildungsreferats hat ein eigenes Programm erarbeitet, das sich "Aktiv gegen Mobbing" nennt. Das staatliche Schulamt, das für Grund- und Mittelschulen zuständig ist, stellt Beratungsfachkräfte bereit. Und die Polizei kümmert sich nicht nur um Straftaten, sondern schickt Jugendbeamte auch zur Aufklärung an die Schulen.

"Die Nachfrage ist um ein Vielfaches höher als das Angebot"

Doch das Problem liegt in den Details. Zum einen sind Schulen nicht verpflichtet, sich von außen Hilfe zu holen. Also machen die einen etwas, die anderen aber nicht. Zudem sind die Wartelisten oft lang: Drei Wochen müsse eine Schule warten, bis die Träger einen Krisenexperten zur Intervention schicken können; bis zu neun Monaten dauere es, um ein Präventionsprojekt an die Schule zu holen, berichtet Johannes Mathes, Geschäftsführer der Caritas-Zentren München Stadt/Land und Sprecher der Verbandsvertreter.

Im akuten Krisenfall sei diese Zeit viel zu lang. "Die Nachfrage ist um ein Vielfaches höher als das Angebot", sagt Mathes. Seine Lösung: Es brauche mehr Schulsozialarbeiter, vor allem Grundschulen und Gymnasien seien stark unterversorgt mit Fachkräften, die schnell eingreifen könnten. Darüber wollen die Stadträte nun weiter diskutieren.

Und Uri Sharell, Schüler am Oskar-von-Miller-Gymnasium und in der Stadtschülervertretung engagiert, hat noch einen anderen Vorschlag: Vielleicht, so regt er an, könnte das nächste Treffen eher nachmittags stattfinden. Vormittags seien Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu Politikern und Verbandsvertretern nämlich in der Schule. "Ein Problem, das sich um Schüler dreht, ohne Schüler zu lösen, ist nicht zielführend", sagt Sharell.

© SZ vom 07.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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