Sozial-Debatte:Welche Gerechtigkeit meint ihr?

Obdachlose Familie in München, 2011

Das Thema soziale Gerechtigkeit "von der PDS zurückholen" - diesen Wunsch von Wolfgang Thierse will Martin Schulz erfüllen.

(Foto: Catherina Hess)

Martin Schulz ruft nach mehr Gerechtigkeit und die anderen Parteien stimmen mit ein. Die eigentlichen Probleme des deutschen Sozialstaats erfasst diese Sozial-Rhetorik aber nicht.

Von Heribert Prantl

Schon lange ging es nicht mehr so gerecht zu in Deutschland wie heute - verbal jedenfalls. Wer Martin Schulz hört und die Reaktionen der politischen Konkurrenten, wer die Wahlprogramme der Parteien liest oder die Entwürfe dazu, wer die TV-Talkshows sieht, der hat den Eindruck: Lange ist in Deutschland nicht mehr so viel von sozialer Gerechtigkeit geredet worden wie heute.

Das stimmt aber nicht: Bereits 2005, im Wahlkampf also, der Kanzler Schröders Agenda 2010 folgte, war "gerecht" eines der beliebtesten Adjektive. Und als im August 2007 die große Finanzkrise begann, wurde das Wort noch beliebter. Das heißt: Das Reden von der Gerechtigkeit stand schon am Beginn der Ära von Angela Merkel, die seit 2005 regiert. Im Grundsatzprogramm der CDU von 2007 ist die Gerechtigkeit ein schwarzer, im Grundsatzprogramm der SPD von 2007 ist sie der große rote Faden, allerdings noch nicht so oft in der Wortkombination "soziale Sicherheit" wie heute beim SPD-Kanzlerkandidaten. Er proklamiert eine "Zeit für mehr Gerechtigkeit". Die neue Parole ist - die alte.

In Frankreich ist der rechte Front National bereits die größte Arbeiterpartei geworden

Was also hat sich eigentlich geändert im Wahlkampf von 2017? Es sind zwei Dinge. Erstens: Diesmal sind, anders als früher, die Kassen des Staates voll; es gibt Haushaltsüberschüsse in Milliardenhöhe, die für kostenlose Bildung, Kita-Plätze oder Steuersenkungen verwendet werden können; das wäre die Konkretisierung der sozialen Gerechtigkeit. Und zweitens: Es gibt eine Partei, die AfD, die es in den früheren Wahlkämpfen noch nicht gab. Die AfD wird der sogenannten rechtspopulistischen Bewegung in Europa zugerechnet, die sich an die kleinen Leute wendet und ihnen verspricht, dass sie wieder mehr gehört, gesehen und beachtet werden - und die dieses Versprechen mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit verbindet.

In Frankreich haben die Rechtspopulisten der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen damit schon großen Erfolg. Ihre Partei, der "Front National", ist die größte Arbeiterpartei geworden; sie hat viele Wähler angezogen, die früher die linken Parteien und die Gewerkschaften für sich reklamierten. Das bringt in Deutschland die SPD unter ihrem neuen Vorsitzenden Martin Schulz dazu, die alten Schlüsselwörter der Sozialdemokratie wieder mit neuer Leidenschaft zu rufen: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit. Schulz gilt, anders als Sigmar Gabriel, der das zuvor vergeblich versucht hatte, als homo novus und glaubwürdig; das erklärt die ansteckende Begeisterung über ihn in der SPD. In der Union hätte der alte Stratege Heiner Geißler gern, dass der Schlachtruf "Freiheit oder Sozialismus" (das war die Parole der CDU im Wahlkampf von 1976) nun umgewandelt wird in "Kapitalismus oder Solidarität". Diese Formulierung sei nun allerdings, wie er bedauert, nicht von seiner Partei, sondern von Sahra Wagenknecht von der Linken aufgegriffen worden.

Wenn Gerechtigkeit eine Tugend ist, die jedem das gibt, was ihm gebührt, wem gebührt dann ein Wahlsieg? Dem besten Rhetoriker? Gerechtigkeitsrhetorik hat der Wähler nun schon sehr lange gehört. Es geht nun um den praktischen Umgang mit Schlüsselwörtern, die nicht umsonst so heißen: Wenn man sie nur wie einen alten Schlüsselbund an den Gürtel hängt, dann sind sie erst einmal Klapper- und Klackerwörter. Geräusche zu machen ist aber nicht die Funktion von Schlüsseln. Wichtig ist, ob man damit Türen aufsperrt und welche Türen es sind. Gerhard Schröder hat die Gerechtigkeits-Wörter durchaus benützt, sie aber zur Dekoration einer ganz anderen Politik verwendet, die auf das "einwandfreie Spiel der Marktkräfte" vertraute (so das Schröder-Blair-Papier von 1998) und die soziale Gerechtigkeit an den Markt delegierte. Schröder betrieb, so seine Kritiker, den sozialdemokratischen Anschluss an das globale neoliberale Projekt.

Die SPD eiert noch ziemlich herum

Schon seit 1999 gab es in der SPD Widerstand gegen die Schröder-Linie: Der damalige saarländische Ministerpräsident Reinhard Klimmt klagte in einem Brief an den SPD-Bundesvorstand im Juli 1999, aus der "harmonischen Verbindung von Innovation und Gerechtigkeit" sei "die Gerechtigkeit ausgemustert" worden. Merkel hat jüngst diese alte SPD-Formel von "Innovation und Gerechtigkeit" wieder aufgegriffen, um damit ihren Konkurrenten Schulz zu kritisieren und ihm eine "überholte Vorstellung von der Gerechtigkeit" vorzuwerfen. Wolfgang Thierse, damals Bundestagspräsident, plädierte schon im September 1999 dafür, das Thema soziale Gerechtigkeit "von der PDS zurückzuholen". Und als Hans-Jochen Vogel im Jahr 2011 85 Jahre alt wurde, war sein Geburtstagswunsch an seine SPD, die soziale Gerechtigkeit wieder ernster zu nehmen: "Ich bin für die Wiedereinführung der Vermögensteuer, um die Schere zwischen Arm und Reich etwas zu schließen." Er traute offenbar der bloßen Gerechtigkeitsrhetorik nicht.

Die Vermögensteuer kann das Thema sein, an dem sich die Geister scheiden

Sechs Jahre später will Martin Schulz ihm diesen Wunsch erfüllen; aber seine Partei eiert noch ziemlich herum. SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel ist dagegen, er redet zwar von einer "stärkeren Beteiligung von riesigen Vermögen, um beispielsweise Investitionen in Schulen und Kitas bezahlen zu können". Aber auf welchem Weg das zu erreichen ist, soll erst noch "im Steuerkonzept" festgelegt werden. Im Wahlprogramm der NRW-SPD steht die Vermögensteuer. Die SPD-Linke will sie selbstredend auch, dazu eine Reform der Erbschaftsteuer und einen höheren Spitzensteuersatz. Die CDU und CSU dagegen wollen die Vermögensteuer partout nicht. Horst Seehofer hat "die größte Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik" angekündigt, von einer "Agenda 2025" ist auch schon die Rede.

Es kann also gut sein, dass sich das gefällige Reden über soziale Gerechtigkeit dann, wenn es in ein paar Wochen konkret wird, nicht mehr so gefällig ausnimmt. Die Vermögensteuer kann das Thema sein, an dem sich die Geister scheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vermögensteuer nicht, wie häufig behauptet, 1995 für verfassungswidrig erklärt. Es hat lediglich erklärt, dass diese Steuer aus verfassungsrechtlichen Gründen nur an die möglichen Vermögenserträge anknüpfen dürfe. Ansonsten würden Steuerpflichtige mit Geldvermögen gegenüber Grundeigentümern benachteiligt, weil Immobilien nicht mit dem Verkehrswert, sondern mit dem viel niedrigeren Einheitswert besteuert werden. Das Gericht setzte dem Gesetzgeber zur Behebung dieser Ungleichheit eine Frist bis Ende 1996. Der setzte jedoch die Erhebung der Vermögensteuer einfach aus. Dabei ist es bis heute geblieben.

Georg Cremer, der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes befürchtet, dass im Wahlkampf vorrangig die Gerechtigkeitsthemen der Mitte angesprochen und die Belange der Armen rhetorisch missbraucht würden. Das Problem des deutschen Sozialstaats sei es nicht, dass notwendige Hilfen verweigert, sondern dass er das Entstehen von Notlagen nicht verhindert. Dazu aber ist der aktuellen Gerechtigkeitsrhetorik noch nicht so viel eingefallen. Es geht nicht darum, mit dem Wort Gerechtigkeit zu klappern, sondern Gerechtigkeit als Schlüssel zu nutzen und denen die Türen aufzuschließen, die ausgeschlossen sind - von guter Bildung, von guter Wohnung, vom guten Lebensabend, von guter Pflege und von gutem Lohn.

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