SZ-Serie "Ist die Globalisierung am Ende?" (3):Wo Wirtschaft gedeiht, übergeht sie Grenzen

SZ-Serie "Ist die Globalisierung am Ende?" (3): Container Depot München (CDM) am 28.8.2014.

Container Depot München (CDM) am 28.8.2014.

(Foto: Robert Haas)

Die Stellung in der Weltwirtschaft entscheidet über die politischen Handlungsmöglichkeiten und nationale Machtentfaltung eines Landes. Eine historische Betrachtung der Globalisierung.

Von Werner Plumpe

Nach dem Fall der Berliner Mauer schien die Globalisierung unaufhaltsam zu sein. Für Befürworter wie für Kritiker wurde sie zum Begriff unserer Epoche. Eine Serie fragt im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, ob die weltweite Verflechtung von Populismus und Protektionismus in der Ära von Donald Trump ins Stocken gerät.

Die Geschichte der weltwirtschaftlichen Strukturen und Verknüpfungen reicht weit zurück. Im Grunde waren politische Grenzen, hierauf bezogen, stets künstliche Hindernisse, denn wirtschaftliche Arbeitsteilung folgt technischen und geografischen Gegebenheiten sehr viel mehr als willkürlich gezogenen politischen Barrieren. Im Gegenteil könnte man sogar mit einem gewissen Recht die Auffassung vertreten, dass sich politische Gebilde nur haben halten können, wenn sie zumindest in längerer Frist die Zwänge interregionaler ökonomischer Arbeitsteilung respektierten. Der Niedergang Chinas seit dem 17. Jahrhundert hat viel mit seiner relativen ökonomischen Isolation zu tun. Und auch die Sowjetunion vermochte es nicht, sich gegen die großen weltwirtschaftlichen Strukturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allein zu behaupten.

Versuche der USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump, eine Art neomerkantilistischen Alleingang zu unternehmen

Man mag in der Geschichte der globalen Wirtschaftsbeziehungen immer wieder auf deren Probleme hinweisen - etwa auf den Untergang des eurasiatischen Handelsnetzes, der Pax Mongolica, im 14. Jahrhundert; auf die Phase des aggressiven Merkantilismus im 17. und 18. Jahrhundert; auf den Zerfall der Pax Britannica und die großen Kriege seit dem Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts; und schließlich auf die aktuellen Versuche der USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump, eine Art neomerkantilistischen Alleingang zu unternehmen. Und trotzdem ist nicht zu bestreiten, dass sich im historischen Trend die überregionale Arbeitsteilung vertieft hat und der Handels-, Güter- und Wissensaustausch intensiver geworden ist. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass in der Summe die Nützlichkeit einer weitgehenden globalen Arbeitsteilung ihre wirklichen oder vermeintlichen Nachteile weit überwiegt.

Die historisch gut bekannten Auseinandersetzungen gingen daher zumeist auch weniger um die Frage, ob es so etwas wie grenzüberschreitenden Austausch überhaupt geben soll, als vielmehr um die Frage, wer davon in welcher Weise profitiert. Der Zusammenhang von ökonomischem Erfolg und nationaler Machtentfaltung wurde spätestens dann offensichtlich, als die kleinen Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert der spanischen Weltmacht erfolgreich die Stirn boten, nicht zuletzt wegen ihrer wirtschaftlichen Stärke. Seither ist ökonomischer Erfolg als politische Ressource im Bewusstsein der Obrigkeiten fest verankert, ihn zu erreichen, durchzusetzen und gegen Konkurrenz dauerhaft zu behaupten, ein entscheidendes Motiv staatlichen Handelns.

Und gerade hieraus ergibt sich auch das Auf und Ab in der Frage, wie weit eine offene Weltwirtschaft als hilfreich oder gefährlich angesehen wird. Unstrittig war und ist, dass wirtschaftlicher Erfolg, der mit einer starken Position in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung korrespondiert, Vorteile bietet - weil die finanziellen Handlungsmöglichkeiten zunehmen, weil sich militärische Ressourcen mobilisieren lassen, weil die Bevölkerung sich vermehrt und zugleich sozial abgesichert werden kann, um nur einige Punkte zu nennen. Zumindest jene Staaten, die sich stark genug hierfür fühlten, waren daher frühzeitig Vertreter einer möglichst offenen Weltwirtschaft, allen voran zunächst die von Spanien abgefallene Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert.

Auf und Ab im Umgang mit den globalen wirtschaftlichen Strukturen

Bald zeigten sich aber die aus politischer Sicht paradoxen Effekte des Freihandels, da dessen Nutzen keineswegs alle gleich begünstigt. Großbritannien führte im 17. Jahrhundert wiederholt Krieg gegen die im europäischen und Welthandel weit überlegenen Niederlande, ja verfolgte einen aggressiven Wirtschaftsnationalismus, bis es schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts erfolgreich alle Konkurrenten, von Spanien über die Niederlande bis zu Frankreich, aus dem Weg geräumt hatte. Seither vertrat London bis 1914 einen Freihandelsstandpunkt, der zugleich Bedingung, Ausdruck und Folge der sich mit ihm verknüpfenden, weltumspannenden Pax Britannica war.

Man kann diese Erfahrungen verallgemeinern: Die Vorteile globaler Arbeitsteilung sind unterschiedlich verteilt, diese Ungleichverteilung ist aber keineswegs stabil. Hier liegt auch der eigentliche Grund für staatliche Interventionen: Staaten, die glauben, schlecht wegzukommen, suchen sich zu schützen; überlegene Staaten zielen auf die Durchsetzung von Freihandelsstrukturen.

Wo ökonomisch alles für engere Zusammenarbeit spricht, tendiert die Politik oft zum Gegenteil

So finden sich im gesamten, vermeintlich freihändlerischen 19. Jahrhundert eben auch Gegenbewegungen gegen die englische Freihandelsdoktrin. Die USA gingen seit den 1820er-Jahren zu einer Hochschutzzollpolitik über, an der sie bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent festhielten. Die Staaten des europäischen Kontinents folgten dem englischen Vorbild nur zeitweilig; im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden fast überall die Zollsätze erhöht, wenn in der Regel auch nur moderat, aber immerhin: Schutzlos wollten viele Staaten der überlegenen britischen Wirtschaft nicht ausgeliefert sein. Die Staatenkonkurrenz war nicht der einzige Grund, der die globalen Strukturen verschob. Der wirtschaftliche Strukturwandel selbst spielte und spielt bis in die Gegenwart eine große Rolle.

Großbritanniens weltwirtschaftliche Dominanz war eine Folge seiner starken Stellung in der Frühzeit der modernen Wirtschaft; doch schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ab, dass mit den neuen Technologien - chemische, elektrotechnische Industrie, Maschinenbau, Feinmechanik, Optik und so weiter - sich die Gewichte verschoben. Die USA und in Europa Deutschland waren nun wirtschaftlich erheblich dynamischer, während die englische Dominanz geringer wurde, zweifellos eine Verschiebung, die die Konfliktsituation, die dann in den Ersten Weltkrieg führte, nicht entschärfte. Schließlich spielen regionale Verschiebungen aufgrund unterschiedlicher Ausstattung mit Ressourcen eine bedeutende Rolle. Europas Aufstieg hat viel mit der leichten Verfügbarkeit von Kohle zu tun; die Bedeutung des Erdöls ist für die globalen weltwirtschaftlichen Beziehungen kaum zu überschätzen. Und der Wandel, man denke nur an Chinas Aufstieg seit seiner weltwirtschaftlichen Öffnung, hält an.

Das Auf und Ab im Umgang mit den globalen wirtschaftlichen Strukturen hat mithin vor allem politische Ursachen. Die Stellung in der Weltwirtschaft entscheidet über politische Handlungsmöglichkeiten; also war und ist die Weltwirtschaft, obwohl selbst sehr viel mehr wirtschaftlich, technisch und geografisch bestimmt, immer auch ein Politikum. Während unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten fast alles für eine Vertiefung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung spricht - spätestens seit den außenhandelstheoretischen Überlegungen von David Ricardo ist das auch wissenschaftlich gut begründet -, wiesen die politisch bedingten Pendelschläge häufig in die gegenteilige Richtung. Abschluss wie Öffnung der Weltwirtschaft hingen daher stets mit politischen Entscheidungen zusammen; gerade die großen Globalisierungswellen im 19. Jahrhundert und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren politisch geprägt: Pax Britannica und Pax Americana.

Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts aber ist ein weiteres Moment hinzugetreten. Nimmt man die Steigerung des globalen Handelsvolumens und der entsprechenden Austauschbeziehungen, die durch die Liberalisierung des Welthandels sowie die dramatische Absenkung der Transportkosten möglich geworden sind, so ist die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung mittlerweile derart intensiv, dass die jeweiligen Staatsgrenzen, jedenfalls wirtschaftlich gesehen, im Grunde ihre Bedeutung verloren haben. Nur sind die Folgen dieser weltwirtschaftlichen Integration weitaus dramatischer als früher, denn die Bedeutung ganzer Regionen ist plötzlich zur Disposition gestellt.

Vorteile der globalen Arbeitsteilung werden aufs Spiel gesetzt

Die Deindustrialisierung vieler Gegenden Westeuropas hat ja nichts damit zu tun, dass weniger Industrieprodukte konsumiert würden, sondern dass sie in Asien preiswerter hergestellt werden können. Diese Verluste wurden lange durch die Vorteile der Globalisierung überdeckt, doch momentan, insbesondere seit der Welthandel schneller wächst als die Weltwirtschaft selbst, werden dessen Folgeprobleme zu ernsthaften Herausforderungen der für ihre Standorte ja weiterhin verantwortlichen Regierungen. Dass neomerkantilistische Stimmen insbesondere in den USA aufkommen, deren eigener Wirtschaftsraum ja groß genug ist, um die Illusion erfolgreicher Alleingänge zu nähren, ist wenig verwunderlich, zumal es dort eine lange Tradition entsprechender Maßnahmen gibt.

Historisch gesehen, sind (neo-)merkantilistische Maßnahmen, wie sie sich bei Donald Trump abzeichnen, jedoch nur hilfreich, wenn sie als zeitweiliger Schutz gegen eine überlegene ausländische Konkurrenz das Aufkommen der eigenen Wirtschaft ermöglichen sollen, um dann zu verbesserten Bedingungen in den Freihandel zurückkehren zu können. Solange es nicht gelingt, im Rahmen derartiger "Erziehungszölle" die eigenen "produktiven Kräfte" (Friedrich List) zu entfalten, ist deren Bedeutung aber kontraproduktiv, da sie die eigenen Verbraucher straft, ohne den Herstellern wirklich zu helfen. Die Vorteile der globalen Arbeitsteilung werden aufs Spiel gesetzt, ohne hieraus mittelfristig Nutzen zu ziehen.

Erfolg ist weniger eine Frage der Gewalt als der Entfaltung der eigenen produktiven Kräfte

Denn in der Substanz ist die weltwirtschaftliche Integration ja keine Folge einfach änderbarer, willkürlicher Entscheidungen. Sie folgt vielmehr einer komplexen Logik von ökonomischen Möglichkeiten etwa in Folge stark gesunkener Transportkosten, von technischen beziehungsweise geografischen Zwängen etwa der globalen Rohstoffverteilung, aber auch dem Nachfrageverhalten vieler Menschen, die sich ihr Konsumverhalten nicht von ihren jeweiligen Staaten vorschreiben lassen wollen.

Die Bedeutung (neo-)merkantilistischer Maßnahmen hat ja auch niemals wirklich lange angehalten. Großbritannien hat alles aufgegeben, als sich das Land hierfür stark genug fühlte, und auch die USA waren nach 1945 als dominante Weltwirtschaftsnation der wesentliche Freihandelsfaktor, was ihr seinerzeit als imperialistisch angekreidet wurde. Die Vorteile des Freihandels wollten weder London noch Washington aufgeben, sie wollten nur für sich selbst eine vorteilhafte Position, die sie aber, und das ist der entscheidende Punkt, nur sehr eingeschränkt ihrem Protektionismus verdankten.

Das Geheimnis des britischen Aufstiegs im 18. Jahrhundert und des amerikanischen Aufstiegs im 20. Jahrhundert lag nur bedingt in der politischen und militärischen Dominanz, die half, aber selbst Ausdruck einer überlegenen Produktivität der jeweiligen Volkswirtschaft war. Wenn die Wirtschaftsgeschichte eines lehrt, dann, dass ökonomischer Erfolg weniger eine Frage der Gewalt als der Entfaltung der eigenen "produktiven Kräfte" ist. Das muss nicht heißen, die Globalisierung einfach geschehen zu lassen und auf jede politische Gestaltung zu verzichten. Mit dem deutschen Ökonomen Friedrich List (1789 - 1846) gesprochen, läge aber eine Entfaltung der "produktiven Kräfte" etwa durch Bildungsanstrengungen und ein Schutz der Globalisierungsverlierer durch sozialstaatliche Maßnahmen sehr viel näher als die Bekämpfung einer globalen Arbeitsteilung, deren positive Effekte insgesamt unstrittig sind.

Die Wirtschaftsgeschichte hat Friedrich List weitgehend bestätigt, der für eine offene Weltwirtschaft eintrat, aber eben wünschte, dass die jeweiligen Volkswirtschaften hierauf gut vorbereitet waren. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass das gut funktioniert. Denn die Protagonisten der hiesigen Schutzzollpolitik vor 1914 und in den 1920er-Jahren waren die Schwerindustrie, das Textilgewerbe und vor allem die Landwirtschaft, Wirtschaftszweige also, die auf Kosten der Allgemeinheit Sondervorteile für sich wünschten und dies mit nationalen Notwendigkeiten camouflierten. Diese "alten" Industrien wünschten Bestandsgarantien gegen den überlegenen Wettbewerb, die sie freilich auch nicht schützten, sondern nur den Strukturwandel verzögerten und komplizierten. Die erfolgreichen Industrien hingegen stellten sich auf die weltweite Konkurrenz ein, mit der sie seither gut zurechtkommen. Von ihnen sind Schutzzollforderungen nicht bekannt. (Neo-)Merkantilismus, wirtschaftliche Abschottung sind daher vor allem ein Zeichen der Schwäche, die zu überwinden solche Mittel aber gerade nicht ausreichen.

Werner Plumpe ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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