Journalismus in Russland:Wer recherchiert, muss um sein Leben fürchten

Demonstration vor der russischen Botschaft in London gegen die Verschleppung und Ermordung von Homosexuellen in Tschetschenien.

Putin in Pink: Nach dem Zeitungsbericht gab es auch Proteste vor der russischen Botschaft in London.

(Foto: dpa)
  • Recherchen der russischen Zeitung Nowaja Gaseta über die staatliche Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien, die die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen haben, sind für das Blatt zu einer Bedrohung geworden.
  • Eine Journalistin des Blatts verließ Moskau, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlte.

Von Julian Hans, Moskau

Nach Berichten über die brutale Verfolgung schwuler Männer in Tschetschenien, fürchten Redaktionen russischer Medien nun um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter.

Unter der Überschrift "Ehrenmord" hatte die oppositionelle Nowaja Gaseta am 3. April Recherchen veröffentlicht, wonach in der Kaukasus-Republik im Februar und März mehr als 100 Menschen unter dem Verdacht festgenommen wurden, sie seien homosexuell. Zeugen berichteten, sie seien in geheimen Gefängnissen festgehalten und gefoltert worden, mindestens drei Menschen wurden demnach getötet.

International gab es entsetzte Reaktionen. Die Vereinten Nationen forderten, die Verfolgung Homosexueller zu stoppen. Das Republik-Oberhaupt Ramsan Kadyrow ließ seinen Sprecher indes mitteilen, die Behauptungen könnten schon deshalb nicht wahr sein, weil es in Tschetschenien keine Homosexuellen gebe. Bei den Berichten handle es sich um den "Versuch, unsere Gesellschaft, unseren Lebensstil, unsere Traditionen und Bräuche in den Schmutz zu ziehen".

Laut der tschetschenischen Führung versammelten sich 15 000 Menschen in der größten Moschee der Stadt, darunter auch der Mufti der Republik sowie weitere religiöse Führer. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es: "Die Vergeltung wird die wahren Unruhestifter treffen, wer und wo auch immer sie seien."

Der Chefredakteur der Nowaja Gaseta, Dmitrij Muratow, forderte den Kreml auf, alles dafür zu tun, "damit kein Hass gegen Journalisten geschürt wird, die nur ihrer beruflichen Pflicht nachgehen".

Zwei Mitarbeiterinnen der Zeitung, die über die Verletzungen von Menschenrechten in Tschetschenien berichtet hatten, wurden in der Vergangenheit ermordet: Anna Politikowskaja wurde 2006 vor ihrem Haus in Moskau erschossen. Natalia Estemirowa wurde 2009 in Tschetschenien verschleppt und kurz darauf tot aufgefunden.

Auch Kritik an Vertretern russischer Homosexuellen-Verbände

Elena Milaschina, die Verfasserin des jüngsten Artikels über die Jagd auf Homosexuelle, habe Moskau aus Sorge um ihre Sicherheit vorerst verlassen, hieß es. Wladimir Putins Sprecher Dmitrij Peskow erklärte, der Kreml lehne alles ab, was Journalisten in Gefahr bringen könne. Wenn sich jemand verleumdet fühle, solle er dagegen mit gesetzlichen Mitteln vorgehen.

Als sich am Freitag der Chefredakteur von Radio Echo Moskau mit den bedrohten Kollegen solidarisch erklärte, geriet auch er ins Fadenkreuz. Die Drohungen aus Grosny gegen Journalisten ähnelten denen der IS-Terroristen, schrieb Alexej Wenediktow auf der Sender-Website. "Worauf wartet ihr noch?" hieß es in dem Text an die Adresse von Geheimdienst und Ermittlungsbehörden: Während protestierende Jugendliche wegen Extremismus verfolgt würden, "ist gleich an eurer Seite eine unkontrollierbare Macht entstanden, die dem Staat gegenüber feindlich eingestellt ist und es wagt, russischen Bürgern zu drohen".

Der Artikel, der den Stein ins Rollen gebracht hatte, übte derweil auch deutliche Kritik an Vertretern russischer Homosexuellen-Verbände. Ein Mitarbeiter des Projekts GayRussia.ru habe per Post in mehreren Städten im Kaukasus Kundgebungen für gleiche Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen angemeldet, ohne dass mit dort lebenden Betroffenen abzustimmen. Diese halten ihre sexuelle Orientierung aus Angst um ihr Leben geheim.

Möglicherweise habe der Aktivist Wladimir Klimow gar nicht die Absicht gehabt, Kundgebungen abzuhalten, sondern Anträge gestellt, um mit den Ablehnungsbescheiden vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen, schrieb die Nowaja Gaseta. So hätten "die Ambitionen eines bekannten LGTB-Aktivisten" in Tschetschenien die alte Tradition des "Ehrenmords" wieder erweckt.

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