Lebensmodelle:Hüllenlos

Erstrebenswert ist die Idee, aber gar nicht leicht zu verwirklichen: Eine junge Familie macht vor, wie es geht, auch mit Kindern keinen Müll zu produzieren.

Von Tahir Chaudhry

Nach dem Studium sind Verena und Orlando Klaus mal nach Indien gefahren. Ein klassischer Backpacking-Urlaub. Die Reise war erfrischend und aufwühlend zugleich,erzählen sie. Und am Ende stand die Öko-Erleuchtung. Fast fünf Jahre ist das her.

Heute leben sie mit ihren beiden Kindern Hugo, drei, und Kasimir, eineinhalb, in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Köln. Verena, 33, ist Kostümbildnerin für Theater und Film. Orlando, 31, arbeitet als freiberuflicher Schauspieler im Theater. Indien hat ihr Leben verändert. Verena sagt: "Wenn wir alle wüssten, welche Folgen unsere Müllproduktion hat, würden alle so leben wie wir." Orlando sagt: "Müll ist nicht etwas, womit wir uns umgeben wollen, also lassen wir ihn einfach weg."

Die Familie Klaus lebt jetzt "Zero Waste" - nach Béa Johnsons fünf goldenen Regeln für null Abfall: refuse, reduce, reuse, recycle, rot (zu Deutsch: ablehnen, reduzieren, wiederverwenden, zur Wertstoffsammlung geben und kompostieren). Aber woher der Sinneswandel? Was genau war in Indien geschehen?

Für das Shampoo verrührt Verena einfach Roggenmehl mit lauwarmem Wasser

Es ist Anfang September 2012. Orlando und Verena Klaus sitzen zusammen in einem Bus in Indien, irgendwo zwischen der Südspitze und der Westküste, so genau wissen sie das nicht mehr. Vor ihnen sitzt eine fünfköpfige Familie. Sie essen ausgiebig. Bis am Ende Plastikteller und Verpackungen übrig sind. Der Vater schmeißt alles in einen Müllsack und gibt dem Busfahrer ein Handzeichen. Der schwenkt den Bus auf der Brücke nach rechts, der Vater öffnet das Fenster und wirft alles in den Fluss.

Verena sagt, sie sei fast ausgerastet. Am liebsten hätte sie dem Vater auf den Kopf gehauen und gesagt: "Du hast so ein tolles Land, aber du machst es kaputt."

Das Indien-Erlebnis lässt die Familie Klaus nicht los. Das deutsche Entsorgungssystem ist so gut organisiert, dass der Müll, anders als in Indien, kaum sichtbar ist. Morgens um halb sieben kam die Müllabfuhr und leerte die Tonne. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl. Verena wollte wissen, was genau mit dem Müll passiert und informierte sich. Laut Statistischem Bundesamt produziert jeder Deutsche mehr als 600 Kilogramm Müll im Jahr und liegt damit sogar weit über dem EU-Durchschnitt.

Jetzt wollte Verena Ernst machen. Sie googelte "Müll vermeiden" und stieß über Umwege auf den Blog "Zero Waste Home" von Béa Johnson - einer Frau, die zeigt, dass müllfreies Leben nicht nur als Single, sondern auch mit Kindern möglich ist. Aus ihrem Blog wurde bald ein Buch. Aus dem Werk der US-amerikanischen Autorin wurde die internationale "Zero Waste"-Bewegung. Und aus Johnson wurde die Botschafterin eines alternativen Lebensstils.

Bei Bloggern und Journalisten ist es beliebt, Selbstexperimente mit dem "Zero Waste"-Lebensstil zu machen. Sie versuchen dann immer, eine Woche oder einen Monat ohne Müll auszukommen. Meistens scheitern sie. Oder stellen zumindest fest, wie anstrengend das sein kann. Orlando hält solche Aktionen für Blödsinn: "Das geht nicht radikal von heute auf morgen, sondern muss schrittweise aus Überzeugung passieren."

Lebensmodelle: Familie Klaus.

Familie Klaus.

(Foto: Marcus Simaitis)

Am Anfang wollte Verena am liebsten alles sofort umsetzen. Aber sie ist schnell an ihre Grenzen gestoßen. "Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas aufholen muss", sagt sie. Die festgefahrenen Gewohnheiten seien allerdings nicht müllvermeidend gewesen, sondern hätten immer wieder für Misserfolge gesorgt. "Wichtig ist, ganz entspannt anzufangen, bis man einen fast spielerischen Umgang damit entwickelt", empfiehlt Orlando.

Verena und Orlando sind große Fans eines minimalistischen Vintage-Stils. Im Kinderzimmer liegt nur wenig Spielzeug aus, und im Wohnzimmer steht kein Fernseher - nur Bücher, die gibt es in Massen. Und wenn die bunten Verpackungen aus Plastik fehlen, dann wirken vor allem die Küche und das Badezimmer ungewohnt aufgeräumt, um nicht zu sagen: leer. Ein kleines Seifenstück, vier Holzzahnbürsten, Zahnpastapulver und Kokosöl zum Abschminken - viel mehr brauchen sie nicht. Das bietet Platz für mehr Freiheit und Glück, sagen sie. "Wir leben nicht nur gesund und sparsam, sondern auch flexibler und unabhängiger", sagt Verena. Wenn Verena ihre Kosmetik- und Pflegeprodukte nicht im "Zero Waste"-Onlineshop kauft, dann stellt sie selbst welche her. Das dauert in der Regel nur wenige Minuten. Für das Shampoo verrührt Verena einfach Roggenmehl mit lauwarmem Wasser, für die Zahnpasta Calciumcarbonat und Stevia mit Minzöl, für das Deodorant Natron und Speisestärke mit Kokosöl und für ihren Lidschatten Zimt, Kakao und Kurkuma. Seitdem Verena Olivenölseife zum Waschen verwendet, braucht sie auch keine Creme. Ihre Hautärztin hat sie dafür gelobt: "Bei unreiner oder gereizter Haut reicht es, Kosmetik zu verringern und Naturprodukte zu verwenden." Zero Waste kann auch gesund machen.

Schluss mit dem anonymen Billigkonsum: Verena kauft beim Unverpackt-Laden "Tante Olga"

Ein Blick in die Küchenschränke der Familie Klaus zeigt: Große Glasbehälter mit unverpackten Lebensmitteln machen nicht nur alles übersichtlicher, sondern sie verändern auch das Gefühl für Lebensmittel und deren Mengen. "Ich erkenne mittlerweile Unterschiede zwischen den vielen Linsen-, Reis- und Mehlsorten", sagt Verena. Außerdem mag sie das persönliche Erlebnis beim Einkaufen. Den anonymen Billigkonsum habe sie sattgehabt. Deshalb besucht sie für ihre Lebensmittel den Unverpackt-Laden "Tante Olga".

Der Supermarkt ganz ohne Einwegverpackungen im Kölner Stadtteil Sülz wirkt wie aus einer anderen Zeit. Schlicht und minimalistisch. Es kommen nicht nur Ökos, sondern auch Kunden, die generell auf Bio und Regionalität ganz ohne Plastik setzen. In den Regalen stehen keine bunten Verpackungen aus Papier und Kunststoff. Mehl und Reis lagern in großen Spendern, andere Waren sind in Gläsern, Fässern oder Flaschen abgefüllt. Ob Gemüse, Nudeln, Hülsenfrüchte, Kaffee oder Süßwaren - Verena füllt alles nach Bedarf in Edelstahldosen, Glasbehälter oder Stoffbeutel.

Einige Produkte sind hier etwas günstiger - vor allem Kräuter und Gewürze, andere etwas teurer. Aber dafür bekomme sie regionale Produkte aus ökologischem Anbau in hoher Qualität. Deshalb müsse sie nicht mehr so oft Lebensmittel wegschmeißen, weil sie nicht schmecken oder verdorben sind. "Wir haben nicht weniger Geld, weil wir 'Zero Waste' leben", sagt Verena.

Gregor Witt ist Mitbegründer von "Tante Olga". Im November des vergangenen Jahres eröffnete er zusammen mit seiner Frau Olga und Dinah Stark den ersten Unverpackt-Laden in Köln. Finanziert wurde durch eigenes Geld und ein erfolgreiches Crowdfunding. Obst und Gemüse, Käse und Fleisch gibt es unverpackt in jeder Stadt, auf jedem Markt. Deshalb hat sich "Tante Olga" auf trockene Lebensmittel spezialisiert. Und sie können sogar davon leben. Die Umsätze steigen. Es gibt immer mehr Läden in Deutschland. In München, Augsburg, Frankfurt, Berlin oder Kiel. Die "Zero Waster" organisieren sich immer mehr in den sozialen Netzwerken oder fangen an zu bloggen. Genau wie Verena. Sie bloggt unter dem Titel "Simply Zero". Die Resonanz ist durchweg positiv, sagt sie. "Die meisten haben Respekt davor, denken über ihr Verhalten nach oder versuchen die praktischen Tipps umzusetzen."

Stoffservietten, Beutel, Kaffeebecher und Bambusteller gehören für Verena und Orlando auf Reisen zur Standardausrüstung. Früher hat Verena es als unangenehm empfunden, mit der Dose zur Käsetheke oder mit dem Topf zum Metzger zu gehen. Das habe viel Überwindung gekostet, sagt sie. Aus Scham hatte sie dann oft gedacht: "Heute nicht, ich gehe lieber morgen einkaufen." Doch mittlerweile braucht sie keinen Mut mehr zu sammeln, weil immer mehr Menschen dasselbe tun.

"Wir sind keine Fanatiker, und 'Zero Waste' ist für uns keine Ersatzreligion, kein Hobby."

Verena erinnert sich noch gut an die ersten Reaktionen ihrer Freunde. Sie seien irritiert gewesen, besonders als Hugo geboren wurde. Sie fing damals an, Stoffwindeln auszuprobieren, weil sie es sattgehabt habe, die vielen verbrauchten Windeln runterzutragen und wöchentlich neue Windeln hochzutragen. Es sei ihren Freunden schwergefallen, ihnen abzukaufen, dass "Zero Waste" für sie keine Belastung ist, sondern das Gegenteil.

Jetzt haben Hugo und Kasimir Durst, auf Milch, Orlando geht zum Kühlschrank. Und plötzlich steht da mitten auf dem Frühstückstisch - ein kunststofflaminierter Karton. Also doch kein "Zero Waste"? Orlandos Erklärung: "Wir sind gestern sehr spät vom Urlaub gekommen und mussten dann vom Kiosk gegenüber holen". Ein Minimum an Ausnahmen bleibt immer, gesteht Verena. "Zero Waste" heißt dann eben doch nicht "Null Abfall", sondern: weitgehend müllfrei. Die Familie kommt mit einem kleinen Behälter Restmüll im Monat aus. "Wir sind keine Fanatiker, und 'Zero Waste' ist weder eine Ersatzreligion noch ein Hobby für uns", betont Orlando.

Wenn manchmal wegen der Arbeit die Zeit fehle, dann gibt es auch mal etwas vom Lieferservice. Verena lacht und richtet dann ihren Zeigefinger nach oben in die rechte Ecke der Küche. Dort steht eine große Vase mit Bonbons für die Kinder. "Wir waren auf Karnevalsumzügen - das ist die Beute." Andere "Zero Waster" seien da eher strikt, aber sie machen doch ab und zu mal Ausnahmen. Den beiden ist es wichtig, trotz der Öko-Ideale kein weltfremdes Leben zu führen.

Aber die Welt alleine retten, das kann die Familie Klaus nicht. Sie wissen das auch. Sie wollen jedoch nicht mehr Teil des Problems sein. Deshalb leben sie die Lösung: Es ist eine Art Leuchtturmprojekt, an dem Leute sehen sollen, dass es sogar eine Familie mit zwei Kindern schafft. Und bestenfalls schließen sie sich ihnen an.

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