Narrative:Ideen gegen Dämonen

Narrative: Europa als Museum, Eintritt frei - in einer früheren Zahnklinik.

Europa als Museum, Eintritt frei - in einer früheren Zahnklinik.

(Foto: Dominique Hommel)

Als die Planung für ein "Haus der Europäischen Geschichte" in Brüssel anfing, war die heutige Krise der EU weit weg. Jetzt wurde es eröffnet - als Museum wider den Nationalismus.

Von Thomas Kirchner

Als Hans-Gert Pöttering, damals Präsident des Europaparlaments, vor zehn Jahren die Idee für ein Haus der europäischen Geschichte in die Welt setzte, dachte er nicht an die Krise Europas. Die gab es ja noch nicht, höchstens Vorzeichen. Man feierte die Osterweiterung der EU und die gemeinsame Währung. Jetzt, wo das große Einigungsprojekt von allen Seiten bedroht wird und zu bröckeln beginnt, erhält die Absicht, sich auf das gemeinsame Erbe zu besinnen, eine neue, fast existenzielle Berechtigung. Die Dämonen der Vergangenheit drohten zurückzukehren, sagte Pöttering am Donnerstag bei der Eröffnung des Hauses. Umso wichtiger sei es, einen Ort zu schaffen, der die "Idee Europa" erzähle, einen Ort zudem, der "europäisch gedacht, konzipiert und verwirklicht wird".

Dieser Ort, das erste postnationale Museum der europäischen Geschichte, liegt nun in Brüssel, gleich neben dem Europäischen Parlament im Parc Léopold, für die Öffentlichkeit von Samstag an kostenlos zugänglich. Wobei die Macher das Wort Museum scheuen und lieber von einem "Hort des europäischen Gedächtnisses" sprechen. 56 Millionen Euro hat es das Parlament gekostet, eine frühere Zahnklinik im Parc Léopold zu renovieren und umzubauen. Die Fassade des Art-déco-Gebäudes, das der Kodak-Gründer George Eastman 1935 gestiftet hatte, wurde erneuert, im Hof und auf dem Dach zusätzlicher Platz geschaffen.

Der Witz dieses Hauses, sein pädagogischer Effekt, ist der Perspektivwechsel, der dem Besucher angeboten wird, die sanfte Aufforderung, sich von der vertrauten nationalen Sichtweise zu lösen und zu fragen, was denn das Europäische sei an den Europäern, was sie gemein haben. Dazu hilft es, und das ist der clevere Beginn der Dauerausstellung, sich Europa von oben anzusehen: wie es da liegt und im Osten ganz organisch in Asien übergeht, den Kontinent, mit dem Europa so vieles verbindet. Landkarten zeigen, wie stark der Standort die Sicht bestimmt. Von China aus liegt Europa links oben in der Ecke, von Australien aus steht es auf dem Kopf.

Über die Frage, was unter der europäischen Geschichte zu verstehen sei, hatte es einigen Disput gegeben. Wo anfangen in diesem gewaltigen Strom von Ereignissen und komplexen Tendenzen, worauf sich konzentrieren? Am Ende haben sich die Kuratoren, ein Team aus acht Ländern, auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt, jene Zeit also, in der Europa den Höhepunkt seiner Macht in der Welt erklomm, in die Hölle des Holocaust hinabfiel und danach etwa völlig Neues, Revolutionäres ausprobierte, die Zusammenarbeit.

Von der Antike bis zum Brexit-Stimmzettel - dies ist kein Propagandahaus der EU

Die Vorgeschichte wird nur sehr kursorisch erzählt, mit wenigen Objekten, die für die großen europäischen Entwicklungen und Errungenschaften stehen: griechische Philosophie, römisches Recht, Renaissance, Aufklärung. Auch das Christentum wird einbezogen, es entstand zwar nicht, aber etablierte sich in Europa. Des Weiteren gilt für alle Themen, dass sie sich über den Kontinent ausgebreitet haben und noch heute relevant sein müssen.

Je stärker die gebotene Verkürzung, desto besser müssen die Ideen sein. Manche sind gut: Der Beginn des Ersten Weltkriegs wird in Form der Pistole erzählt, mit der Erzherzog Franz Ferdinand erschossen wurde. Extrem reduziert auch die Darstellung der industriellen Revolution und der Arbeiterbewegung: ein mächtiger Dampfhammer, darunter, als Ikone, eine Erstausgabe des Kommunistischen Manifests. Zu lesen gibt es aber wenig. Die Ausstellung spricht fast ausschließlich in Objekten, deshalb ist sie auch für Kinder erfahrbar. Das meiste sind Leihgaben, noch verfügt das Haus über keine große eigene Sammlung. Wer mehr wissen möchte, findet das in Tablets, in 24 Sprachen.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Schoah, der Folge eines in vielen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker werdenden Nationalismus und Antisemitismus. Ein Plakat aus der Zeit vor dem Dreyfus-Skandal polemisiert gegen die Juden, und das Erschreckende ist, wie ähnlich das Vokabular jenem ähnelt, mit dem Marine Le Pen und andere europäische Populisten heute gegen muslimische Einwanderer hetzen.

Dies ist kein Propagandahaus der EU. Schon allein, dass den Kuratoren ein derartiges Unterfangen bei der Eröffnung von allen Seiten unterstellt wurde, spricht für die Verunsicherung, die Ängstlichkeit, die Europa inzwischen kennzeichnet. Die EU, das politische Brüssel, kommt eher knapp, in einer Mischung aus Ernst und Leichtigkeit daher. Eine Comic-Wand erklärt die europäischen Institutionen, neben dem Vertrag von Maastricht liegt ironisch der "Acquis", die knapp 100 000 Seiten umfassende Gesetzessammlung der Union. Und auch die Europakritik wird angesprochen, unter anderem mit einem original Brexit-Stimmzettel. Darunter in der Ecke ein Bücherstapel, ganz oben "Debout l'Europe", ein Bändchen aus dem Jahr 2012, in dem Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt für ein föderales Europa plädieren. Europa bleibt also obenauf. Schaut euch das an, Europäer!

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